Frank Martin (* 1890 in Genf, † 1974 in den Niederlanden) gehört klar zu den bekanntesten Schweizer Komponisten. In der Deutschschweiz scheint sein Werk in den letzten Jahrzehnten aber etwas in Vergessenheit geraten zu sein – gerade gegenüber dem von Zeitgenossen wie Arthur Honegger (1892-1955), Othmar Schoeck (1886-1957) oder Willy Burkhard (1900-1955). Die Berner Komponistin, Pianistin, Improvisatorin und Pädagogin Katharina Weber (* 1958) gibt offen zu, dass sie das Werk von Frank Martin bis vor wenigen Monaten nur schlecht kannte. Als sie studiert habe, sei dieses kaum ein Thema gewesen.
Zunächst wenig Berührungspunkte
«Ich habe bei einer neueren Generation von Komponisten wie Jürg Wyttenbach, Erika Radermacher und Urs Peter Schneider studiert, lernte bald auch Heinz Holliger kennen. Ich bewegte mich unter Avantgardisten und hatte kein grosses Interesse für konventionellere Musik.» Es lag eine Aufbruchsstimmung in der Luft, man wollte neue Welten entdecken. Im Verlauf der Jahre sollte sich das aber ändern. Katharina Weber: «Beim Komponieren habe ich zunehmend gemerkt, dass ich auch das Bedürfnis habe, Harmonien zu benutzen, die tonal verwandt sind, wenn auch nicht aus der klassischen Harmonielehre». Durch den Auftrag des Berner Kammerorchesters, eine Hommage an Frank Martin zu komponieren, befasste sie sich intensiv mit dessen Werk. Und stellte fest, dass ihre meist spontan verwendeten Harmonien manchmal denen von Martin ähneln. «Es war für mich eine sehr schöne Begegnung mit seiner Musik.»
Beim Erkunden der Welt von Frank Martin stellte Katharina Weber auch erstaunt fest, dass es viele Aufführungen von seiner Musik gibt, natürlich auch wegen des Jubiläums und vor allem in der Westschweiz und in Holland, wo er ab 1946 lebte. «Ich habe auch erfahren, dass seine Chorkompositionen sehr beliebt sind und wahrscheinlich mehr aufgeführt werden, als ich wahrnehme, da ich mich eher in der Avantgarde-Szene bewege.» Sie befasste sich besonders stark mit der «Petite symphonie concertante», einem Auftragswerk von Paul Sacher aus den Jahren 1944-47, das bei der Uraufführung ihrer Hommage am 25. Oktober 2024 in Bern gleich danach gespielt werden wird. «Dieses Stück ist wirklich grossartig, eine Kombination von unglaublicher rhythmischer, vorwärtsdrängender Kraft und ganz ruhiger, fast schon statischer Stellen. Auch ‹Golgotha› und seine Klavierstücke gefallen mir sehr.»
Eigenwillige Harmonik und Rhythmik
Ist Frank Martins Werk gegenüber denjenigen von Burkhard oder Honegger vielleicht weniger charakteristisch, weniger klar erkennbar? Katharina Weber findet das nicht. «Ich bekam den Eindruck, dass er eine ganz eigene Harmonik entwickelt hat, auch wenn die sehr verbunden ist mit der traditionellen Harmonik. Aber es ist wie bei den Beatles, wo man manchmal auch staunt, welche Akkordverbindungen sie eingesetzt haben. Bei Frank Martin sind die traditionellen Dreiklänge und Septakkorde immer vorhanden. Aber wie er sie verbunden hat, überrascht immer wieder.» Katharina Weber vermutet auch, dass sich Frank Martin beim Komponieren stark vom Gefühl und vom inneren Hören leiten liess. «Auf einem Video habe ich gesehen, wie er eine Partitur durchgeht und dazu dirigiert, so ganz für sich. Da spürte ich, dass er auch ein ausübender Musiker war, der nicht so trennte zwischen Komponieren und Musizieren.»
Steckt dahinter die Erkenntnis, dass das Musizieren oft zur Komposition führt? Katharina Weber bejaht und ergänzt: «Ich musste auch an die Spielart von Jazzmusikerinnen und Jazzmusikern denken: diese Art von Feuer und vom ‹in den Fluss kommen› in einem Stück. Frank Martin hat rhythmisch auch jazzige Elemente verwendet, nicht im Sinn von Jazz-Zitaten, aber mit Elementen wie Synkopen. Ich glaube nicht, dass er versucht hat, jazzig zu klingen. Diese rhythmische Bewegungskraft ist wohl einfach eingeflossen von all dem, was er um sich herum gehört hat, das fand er wohl spannend.»

Eine Hommage mit Spielarten
Die einzigen Bedingungen für diese Auftragskomposition waren, dass es eine Hommage an Frank Martin und für die gleiche Besetzung wie für die «Petite symphonie concertante» geschrieben sein sollte. War die Besetzung für Kammerstreichorchester plus die drei Soloinstrumente Harfe, Klavier und Cembalo eine kompositorische Herausforderung? Katharina Weber: «Ich musste nicht speziell anders vorgehen als bei früheren Auftragskompositionen, bei denen ich die Besetzung nicht wählen konnte. Die Harfe war für mich zwar bis vor kurzem ein neues Instrument beim Komponieren. Aber kurz vor dem Auftrag für diese Hommage habe ich ein altes Stück von mir für eine Besetzung mit Harfe bearbeitet und ein neues dafür komponiert, dadurch habe ich die Harfe gut kennengelernt.»
Auch für Cembalo hatte Katharina Weber noch nie komponiert, doch das stellt man sich relativ ähnlich vor wie beim Piano. «Von der Spielart her schon», erklärt die Pianistin. «Aber vom Klang her nicht. Es hat mich fasziniert, dass diese Besetzung einen Gegensatz bringt zwischen den aus dem Nichts einschwingbaren und beliebig haltbaren Tönen der Streicher und den Tönen der mit Akzent beginnenden Soloinstrumente, die sogleich verklingen.» Katharina Weber spricht sogar von einer Polarität, die sie in dieser Komposition aufzunehmen versucht. «Ich habe am Anfang des Stücks von den Streichern verlangt, dass sie die Noten wie einen Glockenton spielen sollen, mit Akzent im Ansatz und folgendem Ausklingen, eben wie bei den Soloinstrumenten naturgemäss gegeben, wenn sie konventionell gespielt werden. Gleich danach folgt aber eine Passage, wo die Geigen aus dem Nichts auftauchen und wieder dorthin verschwinden.»
Verbindende Polaritäten
Katharina Weber will in ihrer Hommage Bezug nehmen auf «Martins Meisterwerk», die «Petite symphonie concertante», und doch ihrem eigenen künstlerischen Hintergrund treu bleiben. «Da mein Stück den Konzertabend eröffnen wird, wollte ich quasi eine ‹Einstimmung› gestalten: Ich lasse die leeren Saiten aller Streichinstrumente ertönen, zusammen mit Mikrointervallen, was dann wie das Stimmen der Saiten klingt. Und zum Schluss führe ich mit dem Krebs der Zwölftonreihe von Frank Martin direkt auf sein Werk hin.» Die «Petite symphonie concertante» folgt deshalb direkt nach ihrer Hommage, ohne Pause, mit seiner Zwölftonreihe. Daraus ergebe sich eine weitere Polarität, die von diatonischem und chromatischem Klangmaterial.
Die Idee mit der Verwendung der Zwölftonreihe sei ihr gleich zu Beginn, bei einer Meditation am Klavier gekommen, bei der sie aufgeschrieben habe, was ihr dabei so in den Sinn gekommen ist. «So habe ich viele Skizzen gemacht im Zusammenhang mit dieser Zwölftonreihe, die ich auch gesungen habe. Ich versuchte, das Gehör dafür zu bekommen, und ich improvisiere als Musikerin ja viel.» Als weiteren Bezug zur «Petite symphonie concertante» gibt es in ihrer Hommage eine Steigerung, die ähnlich sei wie bei Martin. «Nach dem Ausbreiten der leeren Stimmquinten g-d‘-a‘-e“ in den Geigen kommt bei mir das h“‘ früh als höchster Ton vor, quasi als Überquinte, eine Oktave und eine Quinte höher als die höchste leere Saite. Die Zwölftonreihe zu Beginn der ‹Petite smphonie concertante› fängt eher in Mittellage an und wiederholt sich dann, aber immer eine Terz höher, sie schraubt sich so wie in einer Spirale hoch zu diesem H.»
Katharina Weber improvisiert als Musikerin gern und häufig, da fragt sich, ob sie auch davon etwas hat einbringen können. «Ja, wenn auch nicht direkt Improvisationen, aber freie Einsätze. In der Einleitung spielt jedes Instrument einzeln den Kammerton a‘, damit man nacheinander all die Farben von den verschiedenen Streichinstrumenten auf dem gleichen Ton, auf dem Stimmton, hört. Danach kommt die Quinte d‘-a‘, wo ich den Musikerinnen und Musikern angebe, sie sollen mit einem Mikrointervall dazu einsetzen, zu einem freien Zeitpunkt, wo ich nur Sekunden angegeben habe, wie lange dieser Klang in etwa dauern soll. Sie können dann selbst entscheiden, in welchem Moment sie einsetzen wollen und mit welchem verschobenen Ton.»
www.katharinaweber.ch Website von Katharina Weber.
www.frankmartin.org Website der holländischen Frank-Martin-Stiftung (auch in Englisch und Französisch), die auch Veranstaltungshinweise auf internationale Konzerte mit Werken von Frank Martin bietet.
www.odysseefrankmartin.ch Website des Vereins L’Odyssée Frank Martin, Kunst- und Kulturerbeprojekt mit dem Ziel, das Werk des Komponisten zu vermitteln, es beliebt zu machen, die Interpretation anzuregen und die Lust zu wecken, es weiter zu tragen.