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Unterwegs im eigenen Universum
Carte Blanche für Cécile Marti.
Foto: Suzie Maeder
Gastbeitrag von Rudolf Amstutz
Cécile Marti gehört zu den herausragendsten Protagonistinnen zeitgenössischer Musik in der Schweiz. In ihren Werken versucht die Komponistin und Bildhauerin verschiedene Ausdrucksformen zu einem grossen Ganzen zu vereinen. Zum Dialog zwischen Klang und Skulptur soll sich in naher Zukunft auch das Ballett gesellen. Die FONDATION SUISA unterstützt die künstlerische Vision der Zürcherin mit einer Carte Blanche in der Höhe von 80 000 Schweizer Franken.

Normalerweise gilt die Einsicht, dass man das künstlerische Werk von dessen Urheber trennen sollte. Im Falle von Cécile Marti ist dies kaum möglich, weil ein einziger Tag in ihrem Leben sie nicht nur zwang, ihren grossen Traum zu begraben, sondern sie letztlich auch nach langer Leidenszeit auf jenen Weg brachte, mit dem sie heute künstlerische Erfolge feiert.

Die Kompromisslosigkeit, mit der die heute 45-jährige Zürcherin ihre künstlerischen Visionen verfolgt, war schon als kleines Mädchen ausgeprägt: «Von klein auf wusste ich: Ich will Geigerin werden. Geigerin und nichts anderes». Mit acht Jahren begann sie Geige zu spielen, kurz darauf kam das Klavier hinzu. Als sie die Violinistin Bettina Boller an einem Konzert hörte, war auch da klar: «Bei der will ich Unterricht haben». Der Wille versetzt Berge und die junge Cécile bekam als einzige Privatunterricht. «Diese Zeit war wie ein musikalisches Erdbeben für mich», schwärmt Marti. «Bettina Boller brachte mir die Neue Musik näher. Mit 12 hörte ich schon Alfred Schnittke. Danach war für mich definitiv klar: Ich muss ans Konservatorium und die Geige wird zum alleinigen Fokus meines Lebens.»

Aus der Traum

Marti senkt für einen Sekundenbruchteil den Blick, bevor sie weitererzählt: «Mit 17 unterrichtete ich bereits selber, mit 18 folgte das Konsi und Orchesterprojekte von Mahler bis Bruckner. Es war grossartig. Doch dann, mit 20, der Hammer!» Marti erlitt einen Schlaganfall, war halbseitig gelähmt. Von einem Tag auf den anderen: Aus der Traum. «Ich wollte es nicht wahrhaben und habe es mit allen erdenklichen Therapien drei Jahre lang versucht. Ich habe so lange gekämpft, bis ich am Ende meiner Kräfte war.»

Marti verbannte die Geige auf den Dachboden und hörte sich fünf Jahre lang keine Musik mehr an. «Die Wunde war viel zu gross.» Sie fühlte sich in dieser Zeit – wie sie es selber ausdrückt – «wie in einer Wüste». Bis zu jenem Moment, als sich ihr Unterbewusstsein zu melden begann. «Plötzlich hörte ich Musik in mir drin. Und die begann ich dann aufzuschreiben. Das war der Anfang meiner Kompositionstätigkeit.»

Mit Dieter Ammann begann das Kompositionsstudium und die erste Begegnung mit Zeitverläufen im Moment-Bereich. Die Begegnung mit dem österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas während ihres Studiums eröffnete ihr plötzlich eine zusätzliche Dimension bei der Erarbeitung eigener Werke. Haas praktizierte im Gegensatz zu Ammann einen für Marti bis anhin unbekannten Umgang mit zeitlichen Verläufen. «Er liess sich für eine Idee ungemein viel Zeit, bis zum Punkt, in der sie völlig ausgeschöpft ist. Und dann dreht sich diese Idee langsam in eine neue hinein. Diese langsame Verwandlungsform hat mich fasziniert. Daraus ergibt sich ein völlig anderes Hören und Zeitempfinden.»

Skulpturales Hören

Im Nachhinein betrachtet ist es wohl kein Zufall, dass sich Marti von den Möglichkeiten verschiedenster Zeitverläufe in den Bann gezogen fühlte. Und ebenso wenig ist es Zufall, dass sie parallel mit dem Beginn ihrer Kompositionstätigkeit auch mit der Bildhauerei begann. Der durch den Schlaganfall jäh unterbrochene Zeitverlauf des eigenen Lebens, der letztlich in einen Neuen mündete; und der rohe Stein, der mit viel Kraft, Ausdauer und Willenskraft sich in eine vollendete Skulptur verwandelt – die Dialektik zwischen Biographie und künstlerischer Auseinandersetzung ist nicht von der Hand zu weisen.

Sie erklärt auch den Weg, den Marti für sich eingeschlagen hat und der sich klar von der klassischen Karriere unterscheidet. «Normalerweise komponiert man im Auftrag von Jemandem. Ich habe vorwiegend meine eigenen Ideen verfolgt», erklärt sie bestimmt. Ihr Doktorvater in London (Marti doktorierte mit einer Arbeit über musikalische Zeitverläufe) äusserte zu Beginn noch Bedenken, was ihre Kompositionspläne betraf. «Er sagte: ‹Du schreibst einfach ins Blaue hinaus›», erzählt sie lächelnd. «Du wirst wohl nie ein Orchester dafür finden.» Er meinte damit den Orchesterzyklus «Seven Towers», in 7 Teilen und für 120 Musiker von 80 Minuten Dauer, der 2016 durch das SOBS in Biel uraufgeführt wurde und seit seiner Entstehung auch in Teilen durch das Berner Symphonieorchester, der Geneva Camerata und der Sinfonietta Basel gespielt wurde.

In diesem – im wahrsten Sinne – atemberaubenden Werk erinnert das Orchester in seiner Ganzheit auch an eine Skulptur, die sich auf vielfache Weise erfahren lässt. «Die Leute sagen mir, meine Musik höre und fühle sich skulptural an und ich denke, sie ist in der Tat sehr gestisch und formend. Ich mag die Vorstellung, dass man Dinge aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachten kann und zwischen meiner bildhauerischen Arbeit und meinen Kompositionen ist tatsächlich eine Wechselwirkung vorhanden.»

«Das grösste Geschenk»

Diese Wechselwirkung möchte Cécile Marti mit einem neuen Projekt erweitern, und zwar mit einem Ballett. Die Idee kam ihr vor drei Jahren, als sie eine Choreographie der Kanadierin Crystal Pite in einem Londoner Theater sah. «Es war wie ein Blitzschlag für mich», schwärmt Marti. «Bis dahin hatte ich noch nie eine Tanzvorstellung gesehen, bei der ich unmittelbar das Gefühl hatte, mit dieser Choreographin möchte ich zusammenarbeiten.» Pite, so Marti, mache tänzerisch genau das gleiche wie sie musikalisch. «Auch sie arbeitet skulptural und mit Hilfe von grossen Gruppen. Sie formt dann diese Masse in alle erdenklichen Richtungen.»

Dass Pite zwar angetan war vom Projekt, aber als Shooting Star der Tanzszene bis 2026 völlig ausgebucht ist, hält Marti nicht davon ab, die Idee weiterzuverfolgen. Während ihrer musiklosen Zeit schrieb sie Dutzende von Tagebüchern – sie sind nicht nur das Vermächtnis einer düsteren Zeit, sondern schildern auch den Aufbruch in ein neues Leben. Diese Schriften sollen Basis sein für ein autobiographisches Handlungsballett, das es in dieser Form noch nie gegeben hat.

Ob im Falle des Balletts, dessen erster Teil im September 2019 in Warschau vorerst konzertant uraufgeführt wurde, oder bei im selben Monat uraufgeführten 2. Streichquartett, dessen Titel «In Stein gemeisselt» bereits auf die Präsenz von 26 Steinskulpturen hinweist: Die Sichtbarwerdung von Zeitverläufen steht im Zentrum von Martis sowohl kreativer wie forschender Arbeit. Konsequenterweise arbeitet sie deshalb auch weiter am Konzept der «Seven Towers», um auch diese in Zukunft physisch skulptural erfahrbar zu machen.

Die Carte Blanche der FONDATION SUISA ermöglicht es ihr nun, ohne Druck dieses Ziel weiter zu entwickeln. «Die Carte Blanche ist einfach das grösste Geschenk, das man sich vorstellen kann», schwärmt sie. «Ich verfolge Dinge, die mir am Herzen liegen und die vielleicht auf dem Papier unpopulär erscheinen. Aber meine Arbeit soll inhaltlich präzise und so authentisch wie möglich sein. Und deshalb sollte der zeitliche Druck dabei keine Rolle spielen.»

Der Schicksalsschlag, den Marti 20-jährig widerfuhr, muss sich wie ein Schwarzes Loch angefühlt haben, in dem sämtliche Materie verschwand. Umso beeindruckender erscheint der nach Jahren der Dunkelheit erfolgte Urknall, aus dem heraus sie ein ganz neues, einzigartiges und noch längst nicht bis in alle Ecken erforschtes Universum erschaffen hat.

www.cecilemarti.ch

2018 hat die FONDATION SUISA mit der Vergabe von neuen Werkbeiträgen begonnen. Die «Carte Blanche» in der Höhe von 80 000 Franken, die nicht ausgeschrieben, sondern alle zwei Jahre direkt von einer Fachjury vergeben wird, soll es Musikschaffenden erlauben, sich ohne finanziellen Druck auf seine oder ihre künstlerische Weiterentwicklung zu konzentrieren.

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