«Wenn ich einmal gross bin, dann möchte ich einen Konzertflügel auf der Bühne haben», sagt Jessica Plattner und lacht ob dem gewählten Ausdruck. Natürlich ist die 31-Jährige längst erwachsen, doch die Aussage deutet eben auch darauf hin, dass sie sich als Künstlerin auf einem Pfad der Weiterentwicklung sieht, der noch längst nicht abgeschlossen ist. Und dies obwohl sie mit ihrem Alter Ego Jessiquoi zu den beeindruckendsten Schweizer Acts gehört. Sie komponiert und produziert sich selber. Sie ist zuständig für das Visuelle und kreiert laufend phantastische Welten, in denen sich Jessiquoi mit Hilfe von mal brachialen, mal zärtlichen Electro-Klangwelten stets neu erfindet, neu definiert.
«Für mich ist Identität etwas Flüssiges», sagt Jessica und zitiert Drag Queen Ru Paul: «You’re born naked. The rest is drag.» Und fügt dann an: «Ich denke, jeder Mensch hat die Freiheit, sich neu zu erfinden. Es bedarf auch keiner Rechtfertigung, wenn ein Mensch sein Leben in eine völlig neue Richtung lenkt. Es ist wie in einem Video Game, wo jede und jeder für sich seinen eigenen Avatar bestimmen kann.»
Die Identitätssuche als treibende kreative Kraft: Bei Jessica liegt dies auch in ihrer aussergewöhnlichen Biographie begründet. Sie wurde in Bern geboren. Kurz darauf wanderte die Familie nach Australien aus. Als sie im Teenager-Alter war, wurde ihrem Vater ein Job am Konservatorium in Bern angeboten und die Familie zog zurück in die Schweiz. Damit wurde auch der noch junge Lebenslauf in andere Bahnen gelenkt. Jessica wollte professionelle Tänzerin werden und besuchte dafür in Sidney bereits die notwendige Ausbildung. Zudem sprachen die Plattners zuhause ausschliesslich Englisch. «Wenn ich meine tänzerische Karriere hätte fortsetzen wollen, dann hätte ich nach Rotterdam oder Berlin gehen müssen. Aber ich wollte bei meiner Familie sein», sagt sie. «Ich hatte in Bern anfänglich das Gefühl Ausländerin zu sein und fühlte mich ausgegrenzt. Erst als ich Berndeutsch zu sprechen begann, waren plötzlich alle nett.» Die Sprache fiel ihr leicht, ihr Deutschlehrer gab ihr gar den Übernamen «Tape Recorder», «weil ich alles so perfekt wiedergeben konnte», lacht sie.
Alternative Existenz
Die Suche nach der eigenen Identität in dieser fremden Heimat mündete dann – dem Tanz beraubt – in der Musik. «Wir hatten immer schon ein Klavier zuhause, aber das hatte ich früher nie angerührt. Ich hatte zwar mal kurz Unterricht, aber ich fand dies furchtbar. Doch plötzlich begann ich jeden Tag an eigenen Songs zu basteln», schildert sie ihre musikalischen Anfänge.
Aber als wäre der Verlust der gewohnten Umgebung nicht bitter genug, erlitt Jessica vor sieben Jahren den wohl schmerzlichsten Schicksalsschlag, den man sich vorstellen kann. Ihr um zwei Jahre jüngerer Bruder starb. «Wir teilten uns alles und wurden von aussen oft gar als Zwillinge wahrgenommen», sagt sie und erzählt dann, wie der Bruder es war, der sie für die Welt der Video Games und Filmsoundtracks begeistern konnte.
Und genau dort, in jenen Welten, wo sich jeder neu erfinden kann, fand Jessica als Jessiquoi ihre neue Heimat. «Man könnte sagen, dass Jessiquoi eine Kunstfigur ist, aber in Wahrheit ist sie eigentlich eine andere Version von mir», sagt sie und ergänzt: «Die Figur kann auch Angst machen, weil Jessiquoi sich nicht in unserem fixen System der klaren Geschlechterrollen und nationalen Identitäten bewegt.»
Jetzt erzählt sie auf ihren Alben von eben diesen fremden Welten, in denen die Täler verseucht sind und die Menschen sich auf die Gipfel der Berge flüchten und wo Piloten in der Lage sind, Richtung einer besseren Existenz zu fliegen. Auf der Bühne setzt sie diese alternative Existenz ganz alleine um. Auf einem Holzwagen hat sie die elektronischen Instrumente und die Kommandozentrale für die visuellen Effekte und so betanzt und bespielt Jessiquoi als Alleinherrscherin die Bühne, die ein Ort der Selbstbestimmung und der ständigen Neupositionierung ist. Jessiqoui erschafft ein in seiner Kompromisslosigkeit beeindruckendes Gesamtkunstwerk, mit dem sie auch schon in Sevilla oder New York für Begeisterung sorgte.
Der Holzwagen – oder wie sie ihn nennt – das «Wägeli» ist wie auch die chinesische Harfe, die sie live spielt, eine Reminiszenz an die chinesische Kultur, zu der sie eine grosse Affinität besitzt. «In der Sprachschule konnte mich eine chinesische Freundin für ihre Kultur begeistern. Und einmal als ich in China war – es war drei Uhr morgens in Shanghai – wollte ich noch was essen und da war diese alte Frau mit ihrem Holzwagen, die darauf das Essen kochte. Dieser alte Wagen inmitten dieser Metropole: Das war ein Bild, das mich nie mehr los liess. Ich wollte diese Frau sein», erzählt sie und schmunzelt.
Neue Songs basteln
Selbstbestimmung ohne Wenn und Aber und die Freiheit, das eigene Ich im flüssigen Zustand zu erhalten, sieht Jessica als Notwendigkeit für ihre Kunst an. «Für mich ist die Hauptaufgabe von Künstlerinnen und Künstlern, die Zukunft unserer Zivilisation neu zu träumen oder sichtbar zu machen, weil diese die Welt und die Menschen um sich herum aufnehmen, analysieren, kritisieren und neu formulieren.»
Dank dem Get Going!-Beitrag steht dieser spannenden Entwicklung nichts im Wege. «Ich habe mich über Konzerte finanzieren müssen, darunter litt die Zeit, um an neuen Songs zu basteln. Jetzt habe ich auf einen Schlag mein Jahresbudget zur Verfügung», strahlt sie. Wohin die Reise sie letztlich führen wird, ist völlig offen: «Ich weiss nicht, was ich morgen für Musik machen werde. Sie kommt einfach. Aber ich werde mir aus marktstrategischen Gründen nie vorschreiben lassen, wie ich zu klingen habe. Ich arbeite an meiner Identität. Ich. Nur ich allein.»
Seit 2018 hat die FONDATION SUISA mit der Vergabe von neuen Werkbeiträgen begonnen. Unter dem Titel Get Going! werden kreative und künstlerische Prozesse finanziell angestossen, die sich ausserhalb der gängigen Kategorien befinden. In einer Porträtserie stellen wir jedes Jahr die Empfängerinnen und Empfänger dieser Get Going!-Beiträge vor. Die Ausschreibung für 2020 dauert noch bis Ende August.