Bruno Spoerri, du hast dich am 9. März 1956 bei der SUISA angemeldet, im Alter von gut 20 Jahren. Du hast dich damals hauptberuflich noch als Psychologe angegeben und nur nebenberuflich als Musiker, obwohl du bereits seit 1952 in Bands gespielt hast. Hast du mit der SUISA-Anmeldung zu komponieren begonnen?
Bruno Spoerri: Das waren nicht meine ersten Kompositionen, aber die ersten, die ich angemeldet habe, weil ich es erst bei diesen sinnvoll fand. Ich habe 1956 noch weitgehend in Basel gewohnt, allerdings in Zürich am Institut für Angewandte Psychologie studiert und in mehreren Bands gespielt. Dazu gehörten das Metronome Quintet in Zürich, die Modern Jazz Group in Freiburg im Breisgau und das Francis Notz Octet/Sextet in Basel und Olten. Deren Pianist war George Gruntz, und dieser hat mir gesagt, dass ich mich unbedingt beim Schweizer Musikerverband (heute SONART) und bei der SUISA anmelden müsse. Und so habe ich die ersten paar «Stückchen» angemeldet, die ich im Grunde genommen für die Band von Francis Notz geschrieben habe.
Hatte die SUISA-Anmeldung auch damit zu tun, dass du hauptberuflich Musik machen wolltest?
Überhaupt nicht, nein. Ich war wirklich ein eingeschworener Amateur, und ich war nicht der Einzige. Es gab damals im Jazz, glaube ich, keinen einzigen Berufsmusiker. Diejenigen, die Jazz spielen wollten, waren beruflich Tanzmusiker. Sie waren immer etwas frustriert, weil sie nicht Jazz spielen konnten oder nur ganz wenig. Hazy Osterwald hat an jedem Abend, wenn er auftrat, eine halbe Stunde lang eine Jazz-Einlage gemacht. Das war fast mehr Comedy als Jazz. Aber dann durften sie Jazz spielen.
Ich habe von anderen Musikern aus dieser Zeit gehört, dass selbstkomponierte Stücke damals gar nicht gefragt waren; stimmt das?
Das auch, ja, man musste ein Repertoire spielen. Und es fiel auf, wenn man mal eine Eigenkomposition brachte. George Gruntz hat damals für das Francis Notz Octet Stücke geschrieben, und dann habe auch ich damit angefangen. Für mein eigenes Quartett, mit dem wir quasi Gerry Mulligan nachgemacht haben, habe ich das erste Arrangement geschrieben: Ich habe den Basler Morgenstreich auf das Gerry Mulligan Quartett umgeschrieben – und mich damit unbeliebt gemacht in Basel.
Jazz eine Rebellion gegen alles zwischen Bach und Debussy
Im neuen Dokumentarfilm «Bruno Spoerri – ein Leben für die Musik» hast du gesagt, dass der Jazz für dich eine Art Rebellion gegen alles zwischen Bach und Debussy war. Ist das auch ein Ausbruch gewesen, um etwas Neues in die Musik hineinzubringen, etwas das dich interessiert hat, was dich fasziniert hat?
Ja, das war natürlich so die typische jugendliche Rebellion. Meine Mutter war Berufsmusikerin, Geigerin, und ihr wichtigster Ausspruch war: Du darfst nie Musiker werden, das ist der schlimmste Beruf, den es gibt. Sie hatte zwar als Solistin auch im Basler Kammerorchester gespielt, erhielt in Genf einen Preis und so weiter. Aber sie ist in kein Sinfonieorchester hineingekommen – da erhielten Frauen keinen Platz. Deshalb musste sie ein Unterhaltungstrio gründen, mit dem sie dann in Cafés spielte, auch in Kurorten wie Davos und in St. Moritz. Das war ein ziemlich schwieriges Leben, wenn man in einer Dépendance eines Hotels untergebracht wurde und für die Gäste sowohl Nachmittags- wie Abendkonzerte spielen musste.
War der Jazz für dich damals ein Ausdruck von Improvisation als Gegensatz zu der starren Musiktheorie und -praxis, die damals weitgehend klassisch geprägt war?
Ja genau. Ich glaube, es hat damit zu tun gehabt, dass ich schon mit sechs, sieben Jahren angefangen habe, Klavier zu spielen. Meine Mutter war ehrgeizig und hat mich sofort zum besten Klavierlehrer von Basel geschickt. Das war ein absolut strenger, altmodischer Mensch. Wenn man Klavierspielen spielen wollte, musste man zuerst Fingerübungen auf dem Tisch machen. Als Kind habe ich das überhaupt nicht ausgehalten. Ich habe damals Disney-Filme wie «Schneewittchen» und «Pinocchio» gesehen: Das war meine Musik, das wollte ich spielen. Meine Mutter bestellte mir sofort Notenhefte von diesen Stücken. Die wollte ich spielen, ich wollte keine Czerny-Fingerübungen machen. Der Klavierlehrer hat mir das Klavierspielen eigentlich verdorben.

Bis heute spielst du offensichtlich sehr gerne mit vielen auffallend unterschiedlich ausgerichteten Musikern zusammen. Ist das für dich eine Art von Inbegriff von Musik, dass sie live gespielt wird und mit verschiedenen Musikern etwas Neues herauskommt?
Ich muss schon sagen, das Improvisieren hat mich am meisten interessiert. 1954 hatte ich einer meiner grössten Erlebnisse. Ich habe das Gerry Mulligan Quartett zum ersten Mal gehört. Und da habe ich gemerkt, dass diese Musiker eine magische Kohäsion haben. Sie sind aufeinander eingegangen beim Spielen. Sie haben nicht einfach ihren Part hinuntergespielt, sondern sie haben auf den Moment reagiert. Das hat mir einen ungeheuren Eindruck gemacht. Und das wollte ich auch mit meiner Musik.
Du hast kurz danach nochmals ein spezielles Konzert erlebt, jenes von Oscar Sala im Jahr 1955. War auch das für dich ein Schlüsselerlebnis, nämlich was man mit elektronischen Instrumenten machen kann?
Ja, ich habe aber nicht gewusst, was mich erwartet, ich bin damals häufig an Konzerte gegangen. Es hiess, im Stadtcasino Basel gebe es ein Konzert mit elektronischer Musik, mit einem Stück von André Jolivet, mit den Ondes Martenot. Ich dachte mir, was ist denn das? Ich bin hingegangen. Und es war für mich ein wahnsinniges Erlebnis, diese Ondes Martenot haben mich richtiggehend umgeworfen. Ginette Martenot (die Schwester des Erfinders) hat das (1928 erstmals vorgestellte elektronische) Instrument gespielt.
Die damit erzeugten Klänge passen besonders gut zu Filmen. Du hast die Ondes Martenot später auch so eingesetzt …
Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass ich je etwas mit Film zu tun haben würde. Aber mich interessierte sehr, was Musiker mit solchen Instrumenten machten, vor allem auch Oscar Sala, der zum ersten Mal auch noch versuchte, eine Art populäre Musik zu machen – was an diesem Konzert gar nicht gut angekommen ist. Aber er hat ein Stück gespielt, bei dem ich vermute, dass er einen grossen Teil davon improvisiert hat. Was das Publikum natürlich gar nicht geschätzt hat.

Auch du warst zum Teil skeptisch. Du hast einmal geschrieben, dass dir 1958 der Philips-Pavillon mit der Musik von Varèse/Xenakis an der Weltausstellung in Brüssel steril vorgekommen sei. Hat das deinen Ehrgeiz geweckt, lebendigere Musik zu schaffen?
Ich hatte den Eindruck, es seien einfach mehrere Projektionen gewesen und dann sei noch die Musik dazugekommen. Es wirkte auf mich einfach irgendwie tot, vielleicht auch zu akademisch auf eine Art. Ich hätte mich nach etwas gesehen, das bewegter ist. Ich habe es dann mehr geschätzt, als ich es später wieder gehört habe. Ich hätte gerne etwas gehabt, das rhythmischer ist.
Ist Rhythmus etwas, das dich am Jazz besonders fasziniert?
Absolut, ja.
Aus einer Reihe von Zufällen in die Filmmusik hineingeraten
Du hast dann 1965 das erste Mal mit elektronischen Geräten Musik gemacht. Wie kam es dazu?
Ich bin aus einer Reihe von Zufällen in die Filmmusik hineingeraten und beruflich umgestiegen. Ich war plötzlich nicht mehr Psychologe, sondern in einer Filmproduktionsfirma tätig als «Tongestalter», ohne zu wissen, was das heisst. Ich war verantwortlich für den ganzen Ton der Werbespots, die sie hergestellt haben. Ich musste die Sprecher organisieren, die Sprecheraufnahmen führen, schauen, dass dazu passende Geräusche ertönten und auch Musik dazu spielen. Viktor Cohen, der mich angestellt hatte, hatte bereits die Vision eines Berufs, den man heute Sounddesigner nennt. Vielleicht war er der erste, wenigstens in der Schweiz, der die Idee hatte, dass es nicht einen Komponisten für den Soundtrack, jemand für die Geräusche und noch jemand für die Sprache gibt, sondern dass eine Person alles zusammenführt. Das war für damals eine absolut geniale Idee, was ich damals selber gar nicht begriffen habe.
Du wurdest bald auch für Soundtracks zu Filmen angefragt, die deutlich länger waren als die 30 Sekunden von Jingles. Wie kam es zum ersten längeren Film, den du vertont hast?
Das war ein Halbdokumentarfilm für die Expo 1964. Felix Aeppli (Historiker und Filmexperte) schrieb, dass diese Expo die Geburt des neuen Schweizer Films gewesen sei. Da hat es plötzlich viele Aufträge für die Ausstellung gegeben, ein riesiger Aufschwung für die Filmszene war die Folge. Über Umwege erhielt ich von einer kleinen Luzerner Filmproduktion meinen ersten Auftrag für einen Industriefilm über die Fertigbauweise. Dann kam ein Dokumentarfilm über die Expo, für den ich die Musik machen konnte.
1965 kam ich durch eine Reihe komischer Zufälle zu meinem ersten Auftrag für einen Spielfilm. Und zwar für einen, bei dem ich zum Zug kam, weil die Komponisten, die normalerweise für diesen Produzenten gearbeitet haben, scheinbar keine Zeit dafür gehabt hatten. Wahrscheinlich war aber einfach das Budget zu klein. Der Tonmeister Walter Wettler hat mich als jungen Musiker empfohlen, wahrscheinlich hat er auch gesagt, ich mache es billiger und mit viel Enthusiasmus.
Es war ein wahnsinnig gelungener Einstieg, obwohl es damals für mich eine absolute Katastrophe war: Ich hatte praktisch keine Zeit, um mich vorzubereiten. Deshalb haben wir die Hälfte der Musik im Studio improvisiert. Ich habe nie gedacht, dass die Musik irgendwie überleben würde. Aber erst viel, viel, viel, viel später kontaktierte mich plötzlich ein Plattenproduzent und sagte, er habe diesen Film entdeckt und wolle den Soundtrack auf Platte veröffentlichen. Und so erlebte diese Musik ein Revival, das ich nie erwartet hätte.
Wie hat denn der Film geheissen?
«Der Würger vom Tower», ein Horrorkrimi-Verschnitt. Das war der letzte Kriminalfilm, den Erwin Dietrich gemacht hat. Und es war offenbar eine ziemliche Pleite, denn danach hat Dietrich auf Sexfilme umgestellt – das hat mehr rentiert.
«Für Jazzmusiker war Rockmusik kommerziell, bös kommerziell, und Elektronik sowieso. Sobald ich die ersten elektronischen Instrumente eingesetzt habe, hiess es, den müssen wir abschreiben, der macht nicht mehr richtige Musik.»
Aber für dich bedeuteten Jingle- und Filmvertonungen wohl auch eine Möglichkeit, vollständig von der Musik leben zu können und unabhängig zu werden?
Das war natürlich so, denn 1965 war ich verheiratet und hatte zwei Kinder, das dritte war unterwegs. Ich wusste also, dass ich für meine Familie Geld verdienen musste. Als ich die Anfrage von Televico erhalten habe, in diese Werbeagentur einzusteigen, ist es mir einfach darum gegangen, dass ich genug verdienen muss, um die Familie zu unterhalten. Ich habe es dann einfach gemacht, weil mir der Firmenchef gesagt hat, gut, dann zahle er mir auf jeden Fall mal den Mindestlohn, den Lohn, den ich in der akademischen Berufsberatung erhalten habe. Er hat mir einfach die Sicherheit geboten, deshalb habe ich gefunden, dass ich es wagen kann.
War es für deine Kollegen unter den Musikern schwierig zu akzeptieren, dass du plötzlich «kommerziell» wurdest, für Werbung gearbeitet hast?
Damals noch nicht so, nein. Das kam später, als der Jazzrock aufkam, als ich auch mit Rockmusikern zusammengespielt habe. Da hiess es dann: Jetzt ist er kommerziell geworden, jetzt will er Geld verdienen. Wobei: Mit Rockmusik haben wir damals überhaupt nichts verdient. Aber für Jazzmusiker war Rockmusik kommerziell, bös kommerziell, und Elektronik sowieso. Sobald ich die ersten elektronischen Instrumente eingesetzt habe, hiess es, den müssen wir abschreiben, der macht nicht mehr richtige Musik.
Du hast einmal gesagt, dass du Werbe- und Filmmusik gegenüber nicht abschätzig eingestellt warst, sondern es als ein Handwerk verstanden hast, um Musik zu schaffen, die einen Zweck erfüllt.
Ja, ich habe bald einmal gemerkt, dass Filmmusik nicht die Musik ist, in der man sich verwirklichen kann. Man nicht wie ein klassischer oder moderner Komponist seine eigenen Ideen einbringen. Man ist der Angestellte des Films, erfüllt eine Funktion. Man ist in erster Linie abhängig von der Regie. Und in zweiter Linie von der Produktion, denn was das Geld angeht, muss man im Rahmen bleiben von dem, was an Geld vorhanden ist. Und das war damals in der Schweiz sehr wenig. Man kann also nicht irgendwelche Träume von sich verwirklichen, sondern man muss sich in den Film hineinbegeben, respektive in die Seele der Regie. Man muss auch genau wissen, was diese von der Musik erwartet.
Wie weit warst du bei der Gestaltung der Filmmusik jeweils frei, wie stark hattest du Vorgaben?
Das war sehr verschieden. Es gab Regisseure, die sehr genau wussten, was sie wollten. Es gab auch solche, die keine Ahnung hatten, was sie wollten. Am besten war es immer mit denjenigen, die zwar nicht genau wussten, was sie wollen, die aber wussten, was die Musik bewirken soll und das auch sagen konnten oder sogar ins Drehbuch hineinschrieben. Und dann haben wir natürlich jeweils zusammen den Film angeschaut und gleichzeitig darüber geredet, etwa: hier könnte jetzt die Musik eine Rolle spielen und wo nicht. Und dort, wo sie nur Füllmaterial ist, lassen wir sie lieber weg, als dass wir jetzt irgendwelche Hintergrundmusik produzieren, die nichts bedeutet.
Erfolg in der Werbemusik mit neuen Klängen
Du hast offenbar mal gesagt, dass du dir mit den Tantiemen der SUISA einen grossen neuen Synthesizer kaufen konntest?
Mein erstes elektronische Instrument, das ich 1967 kaufte, waren die Ondes Martenot. Ich war überzeugt, dass ich etwas mit elektronischer Musik machen muss. Erstens, weil es mich interessiert hat. Und zweitens, weil man in der Werbung Erfolg hat, wenn man Klänge produzieren kann, die die anderen nicht haben.
Insbesondere Effektklänge?
Genau: Wenn man irgendetwas machen kann, was die anderen nicht können. Und dann kam hinzu, dass das Geld immer wahnsinnig knapp war. Für jedes Instrument, das ich selber spielen konnte, musste man einen Musiker weniger bezahlen. Ich habe mich dann umgeschaut, was es auf dem Markt gibt. Ein Trautonium habe ich nirgends gefunden, auch ein Theremin nicht. Hingegen konnte man die Ondes Martenot von einer Firma in Frankreich für 6’000 Franken bestellen. Da habe ich mir das Geld vom Chef der Televico ausgeliehen, das Instrument gekauft – und es sofort in einem Werbespot eingesetzt. Dank diesem Werbespot habe ich plötzlich, völlig unerwartet, viel Geld verdient. Ich konnte meinen Vertrag ändern. Ich hatte nun nicht mehr einen festen Vertrag mit der Firma, weil ich herausgefunden hatte, dass die Tantiemen der SUISA etwa das Doppelte von dem sind, was ich verdiente. Und dann habe ich einen neuen Vertrag gemacht, habe gesagt, ich arbeite gratis für euch, aber ich will alle Tantiemen. Und habe dann plötzlich Abrechnungen der SUISA in der Grössenordnung von 100’000 Franken pro Jahr erhalten. Ich war überwältigt. Ich bin dann aber auch übermütig geworden, muss ich sagen. Ich habe alles Mögliche gemacht, was Geld benötigt. Anstatt dass ich so gescheit gewesen wäre, dass ich mir ein Haus gekauft oder etwas gut angelegt hätte, habe ich angefangen, Instrumente zu kaufen …
… die damals noch sehr teuer waren …
Ja. Ich habe 1967 den ersten Katalog von Moog aufgetrieben, da konnte man einen Synthesizer kaufen in der Grössenordnung von 10 000 US-Dollar, damals umgerechnet etwa 50 000 Franken. Das war noch völlig ausser Reichweite, also habe ich ein bisschen gewartet. Dann habe ich ein Inserat gesehen von der Firma Electronic Music Studios London. Die hatten einen kleinen Synthesizer, der nur 6000 Franken kostete. Und den habe ich mir wagemutig sofort bestellt – und bin dann Tag und Nacht hinter dem Ding gesessen, habe neue Klänge geschaffen, bald auch Werbespots. Auch dank den neuen Klängen regnete es plötzlich Geld. Ich habe dann mit zwei Freunden eine Produktionsfirma gegründet, die Schweizer Musiker aufgenommen hat. Wir haben viel zu spät gemerkt, dass sich noch kein Mensch für Popmusik aus der Schweiz interessiert. Deshalb sind wir die Platten kaum losgeworden, die wir dort produziert haben. Aber wir haben eisern weitergemacht, haben gemeint, das werde eine grosse Geschichte.
Und dann wollten wir ein eigenes elektronisches Studio aufbauen, brachten das Geld aber nicht zusammen. Dann haben wir ein Inserat gesehen für den damals grössten Synthesizer, den Synthi 100 von EMS. Das war ein zwei Meter grosses Möbel. Und das haben wir in einem Anfall von Übermut bestellt, was uns 50 000 Franken kostete. Zwei Wochen nachdem wir das bestellt haben, haben sie mich angerufen und gesagt, das sei ihnen ein zu grosses Risiko, sie wollten das nicht machen. Aber ich habe ihn dann selbst gekauft, wenn ich mich richtig erinnere, mit einem Vorbezug der SUISA. Und das war mein absoluter Glücksfall. Denn ich war plötzlich der Einzige, der einen so grossen Synthesizer hatte in der Deutschschweiz.

In der Werbemusik hattest du damit einen grossen Vorsprung dank der neuen Klänge, aber waren diese Geräte damals nicht sehr umstritten?
Ja, es hiess, damit würden alle Musiker obsolet, dass es eines Tages nur noch elektronische Musik geben würde. Es ist das Gleiche, was man jetzt bei der KI sagt.
Wurdest du deshalb auch von Musikern angefeindet?
Ja, sehr. Die, sagen wir: echten Jazzmusiker fanden, dass man mich nicht mehr ernst nehmen könne. Es gab in England eine Musikgewerkschaft, die den Synthesizer verbieten wollte. Bis man dann gemerkt hat, dass ja auch irgendjemand den Synthesizer spielen muss.
Bis zu einem gewissen Grad berechtigt war der Vorwurf, dass die elektronischen Töne oft steif klangen und die spielerischen Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt waren. Änderte das für dich als Saxophonist, als du 1975 das elektronische Blasinstrument Lyricon entdeckt hast?
Absolut, denn ich war nie ein guter Pianist. Wenn ich etwas auf der Klaviatur gespielt habe, hatte ich meine Grenzen. Ich konnte Tricks anwenden, etwa dass ich oft Läufe mit halbem Tempo aufgenommen habe und dann das Tonband doppelt so schnell abgespielt habe. Das Lyricon war für mich als Saxophonist eine Erleuchtung. Das war das erste elektronische Blasinstrument, das es gab. Der Entwickler war selber Saxophonist. Deshalb hat er ein Mundstück eingebaut, welches auf die Blasstärke und auf den Lippendruck reagiert. Damit konnte man wirklich den Ton modulieren, was ein riesiger Fortschritt gegenüber den ersten Synthesizern war. Es brauchte aber einen riesigen Aufwand, um aus diesem Instrument das Leben herauszukriegen. Von den Saxophonisten haben nur wenige das Lyricon wirklich gespielt.
Aus Protest?
Die Saxophonisten waren oft dagegen, etwas Elektronisches zu benutzen. Es hat berühmte Saxophonisten wie Lee Konitz gegeben, die haben sich für eine Platte mit dem Lyricon einspannen lassen, dann haben sie es weggelegt und nie mehr angeschaut.

Wieso?
Es war ihnen vielleicht doch zu mechanisch. Und man hat wirklich lernen müssen, wie man mit dem Lyricon umgeht. Ich habe sehr viele Stunden gebraucht, bis ich den gewünschten Ausdruck erreicht habe. Wenn man diese Arbeit nicht investiert hat, dann ist es einfach nichts geworden. Heute ist es sehr einfach geworden, elektronische Musik zu machen. Übertrieben gesagt, kann man dem Computer sagen, mach mir die Musik so und so, und dann macht er das, ohne dass man noch viel Gescheites beitragen muss. Es gibt eigentlich ungeheuer viele Möglichkeiten, Musik zu machen. Aber in der Musik, die heute Erfolg hat, höre ich fast nichts davon.
In Randgebieten der Musikszene gibt es durchaus Leute, die experimentieren. Und ich habe das Gefühl, dass es eine junge Generation von Musikern gibt, die die neuen Möglichkeiten ausnutzt und nicht einfach nur Musik macht, die im Grunde sehr starr ist und nur auf die Wirkung von Tanzmusik aus ist.
Als der Computer in der Musik Einzug hielt
Du hast dich auch sehr früh mit dem Einsatz von Computern in der Musik auseinandergesetzt, unter anderem ab 1982 als Mitgründer der Computermusikgesellschaft. Das war damals Avantgarde, weil niemand recht verstanden hat, wieso man für Musik einen Computer einsetzen soll …
Dieser Meinung war ich damals auch.
Und doch ist der Computer heutzutage für praktisch jeden Musiker selbstverständlich geworden, er ist zum «Alltagsinstrument» geworden. Beurteilst du das positiv oder negativ?
Beides. Er bietet einerseits ungeheuer viele Möglichkeiten. Und andererseits, ich sage es jetzt ganz böse, ist es viel einfacher geworden, schlechte Musik zu machen. Man kann ohne Aufwand irgendetwas produzieren, das wie «richtige» Musik klingt, aber im Grunde genommen ein Klischee ist. Es ist viel schwieriger geworden, aus den Klischees auszubrechen. Es werden einem so viele vorgegebene Muster zur Verfügung gestellt, dass man sehr viel investieren muss, um den Klischees zu entkommen und etwas Neues zu kreieren. Was man im ersten Moment vielleicht sogar gut findet, wirkt beim dritten Anhören wie etwas, das man schon tausend Mal gehört hat.
Du hast ja sehr früh interaktive Computermusik gemacht, was du als Computer Assisted Jazz bezeichnet hast. War das der Versuch, ein Jazz-Element in diese Art von Musik hineinzubringen?
Ja, Improvisieren war mir immer wichtig. Ich habe immer in Bands gespielt und wollte da Elektronik hineinbringen. Ich hatte eine Band, die Jazz Container hiess, und da hatte ich den VCS3 auf der Bühne und habe mein Saxophonspiel über diesen geleitet, komplizierte Sachen gemacht.
Letztlich wolltest du den Computer zu einer Art von Mitmusiker machen?
Ich habe immer danach gesucht, wie man mit dem Computer Musik machen kann, die lebendig ist. Ich wollte nicht einfach auf einen Knopf drücken, und dann macht er etwas. Sondern dass man mit dem Computer gewissermassen reden kann. Es war einer der vielen komischen Zufälle, dass ich an der Ars Electronica in Linz den amerikanischen Musiker Joel Chadabe kennenlernte, der ebenfalls an deren Wettbewerb teilnahm. Dieser hat mich später zu meinem ersten Konzert in Amerika eingeladen.
An diesem Auftritt in New York im Jahr 1986 hatte ich meinen ersten Commodore C64 dabei und mein erstes Programm, das mir mein Freund Hans Deyssenroth geschrieben hatte. Dieser Keyboarder arbeitete bereits mit MIDI und konnte mit diesem Programm quasi einen Echo-Effekt erzielen. Es nahm auf, was man spielte, und spielte es zurück, auch variiert. Und ich hatte ein Gerät, das die Tonhöhe des Saxophons in Kontrollspannungen für den Synthesizer umwandelte. Damit konnte ich mit meinem Saxophon den Synthesizer so ansteuern, dass er eine zweite und dritte Stimme spielte. Nach dem Konzert in einer ehemaligen Kirche sagte mir Joel Chadabe dann, dass im Publikum auch Grössen der elektronischen Musik wie Wendy Carlos gewesen waren, die ich danach kennenlernte. Das war ein unglaubliches Erlebnis.

Joel Chadabe sagte mir auch, da gebe es so ein Kästchen, das heisse Macintosh. Und einer seiner Studenten (David Ziccarelli) habe ein geniales Programm geschrieben, mit dem man improvisieren könne. Man konnte eine Melodie einspielen und auf einen Knopf drücken, worauf das Programm Variationen dieser Melodie spielte. Man konnte auch verlangen, dass die Melodie rückwärts oder schneller gespielt wurde. Oder dass immer ein Ton ausgewechselt wurde. Das war für mich eine riesige Entdeckung. Der Programmierer nannte das Interactive Composing. Das war das erste Mal, dass man mit einem Computer etwas live machen konnte. Vorher musste man immer zuerst etwas einspielen, dann warten, bis man es wieder abspielen konnte.
Man konnte wirklich im Konzert auf «Record» drücken, dann nahm das Programm das Gespielte auf und fing nach einigen Tönen selbst an zu spielen und das Gespielte zu verändern. In der Schweiz habe ich dann sofort einen Macintosh gekauft. Die zwei Programme M und Jam Factory habe ich dann jahrelang verwendet.
Mitglied im Vorstand der SUISA
Eine wichtige Neuerung war auch das Sampling, das auch die SUISA bald beschäftigen sollte. Was war deine Motivation, dass du bei der SUISA von 1979 bis 1994 im Vorstand warst?
Ich weiss nicht mehr, wie es dazu kam. Irgendwann sass ich in einer Mitgliederkommission, und da begann mich das Thema zu interessieren. In meiner Erinnerung wollte man einfach einmal einen Jazzmusiker im Vorstand haben. Und damit bin ich prompt mitten in eine grosse Diskussion reingeraten.
Wegen des Jazz oder wegen des Samplings?
Wegen des Jazz. Bei der Vergütung für das Radio gab es damals zwei Tarife, einen für klassische Musik und einen für Jazz. Und die Jazzmusiker wurden bedeutend schlechter berücksichtigt. George Gruntz war damals in einer Kommission und brachte diese Diskussion auf, er hat ja auch eine «World Jazz Opera» geschrieben. Er sagte, wir Jazzkomponisten komponieren eigentlich wie klassische Komponisten, warum werden wir schlechter bezahlt, wenn unsere Stücke im Radio gespielt werden? Als Jazzmusiker war es natürlich an mir, dies im Vorstand zu vertreten. Das habe ich dann auch mit Inbrunst gemacht – und bin natürlich ziemlich auf Widerstand gestossen. Einer der Vorstandsmitglieder hat mir an einer Sitzung einmal gesagt, wenn Sie noch einmal das Wort Jazz sagen, dann gehe ich raus. Damals waren die Komponisten der sogenannten seriösen Musik natürlich noch in der Überzahl.
Wurde bei der SUISA auch das Sampling, das du ja schon sehr früh eingesetzt hast, auch bald zum Thema?
Ja, es gab auch berühmte Prozesse wegen unerlaubtem Sampling, die für die Urheber meistens schlecht ausgingen waren, weil es sehr schwer zu beweisen war. Und weil hinter den Leuten, die gesampelt haben, meistens grosse amerikanische Firmen standen, die Rechtsanwälte zahlen konnten und sich so durchsetzten.
Auch du hast ja diesbezügliche Erfahrungen gemacht. 2013 kam aus, dass der Rapper Jay-Z ungefragt ein Sample aus deiner Filmmusik «Lilith» einsetzte …
Das lief völlig anders, weil es um amerikanische Rechte ging. Die SUISA konnte da im Grunde genommen nichts machen, aber sie gab mir gute Ratschläge. Beim ersten Versuch einer Entschädigungsforderung sind wir an eine Wand gelaufen. Die amerikanische Firma, die zuständig war, hat der englischen Plattenfirma (Finders Keepers Records) eine lächerliche Summe angeboten in einem Vertrag, den man nicht annehmen konnte. Erst etwa ein Jahr später kam im Blick ein Artikel von einem Journalisten, der davon gehört hatte. Und der schrieb die Schlagzeile, Spoerri erhalte nun eine Million. Diese Million habe ich natürlich nicht einmal in der Ferne gesehen. Aber dann erhielt ich ein Telefon von Jane Peterer, einer Musikverlegerin, die ich von früher kannte. Sie habe in Amerika gelebt und genau solche Sampling-Diskussionen mitbekommen und auch vermittelt, sie wisse, wie man das mache. Und dann habe ich gesagt, ja gut, probiere mal. Und sie hat dann das einzig Richtige gemacht. Sie hat einfach dem Vizepräsidenten der betreffenden Plattenfirma angerufen und ihm offenbar alle Schande gesagt. Und dann hat das plötzlich funktioniert – über die persönliche Intervention, nicht über das Gericht. In kürzester Zeit ist tatsächlich ein Vertrag gekommen, aufgrund dessen Finders Keepers Records eine anständige Summe bekommen hat, von der ich dann meinen Teil erhalten habe.
Die Herausforderungen der digitalen Welt sind mittlerweile deutlich grösser geworden, wo deiner Meinung nach besonders?
Ganz klar die KI. Auf Spotify soll es ja bereits unzählige mit KI generierte Stücke geben. Bei Spotify hat man ja noch nie wirklich etwas verdient, und jetzt verdient man deshalb noch weniger. Ich kann mir gut vorstellen, dass wenn jemand eine Filmmusik will und kein Geld ausgeben will, dann kann er sich mit KI ganz billig irgendeine Hintergrundmusik herstellen lassen, die dann eben wiederum niemanden braucht, der sie komponiert. Und die KI wurde mit Kompositionen von richtigen Komponisten trainiert … Es würde aber natürlich eine grosse Summe kosten, wenn man solch einen Soundtrack auf herkömmliche Weise herstellen würde. Solange man nicht grosse Ansprüche an die Qualität stellt.
Ich würde sagen, dass die Musik, mit der man Geld verdienen kann, an einem Wendepunkt steht. Ich habe das Gefühl, dass wir wieder an dem Punkt landen könnten, an dem wir 1960 waren, nämlich dass die Musikschaffenden nicht mehr von der Musik leben können, ausser vielleicht die wenigen, die in einem subventionierten Sinfonieorchester angestellt sind. Aber als Musiker, der Musik produziert, die auf irgendeinem Medium festgehalten wird, stehst du auf verlorenem Posten. Das musst du nebenberuflich machen können und mit einem «anständigen» – so bezeichnete man das früher – Beruf das Geld verdienen. Dann kannst du auch die Musik machen, die du gerne machen möchtest.
Das war bei dir zu Beginn deiner Karriere auch so …
Ja, genau. Jetzt habe ich meine Rente von der SUISA und die AHV. Also kann ich jetzt wieder machen, was ich will, denn ich muss nicht mehr Geld verdienen mit der Musik.
www.computerjazz.ch, Website von Bruno Spoerri



