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#SUISA100

Wie die Schweiz Rock’n’Roll lernte

Wie die Schweiz Rock’n’Roll lernte
Die Basler Band The Honolulu Girls, wohl die erste Schweizer Girlgroup, veröffentlichten 1960 den Titel «Honolulu Rock».
Foto: Fotograf/in unbekannt, Archiv Sam Mumenthaler
Text von Gastautor Stefan Künzli
Wie und wann erreichte der Rock’n’Roll die Schweiz? Welche Spuren hinterliess die rebellische Musik aus Amerika? Wer war der erste Schweizer Rock’n’Roll-Sänger? Welches war das erste Schweizer Rock’n’Roll-Stück?

Rock’n’Roll war mehr als eine musikalische Revolution. Es war das Aufbegehren der Jugend gegen das Establishment, gegen die Elterngeneration und ihre konservativen Moral- und Sexualvorstellungen. Enthaltsamkeit, Beschränkung, Entbehrung und Arbeitseifer waren in den Nachkriegsjahren angesagt. Die Familie wurde idealisiert, die Geschlechterrollen betont. Die Jugend, die da in diesem Wirtschaftswunder aufwuchs, entwickelte Bedürfnisse einer Erlebnis- und Freizeitgesellschaft, ein neues Selbstbewusstsein und anderes Selbstverständnis, das in einen Generationenkonflikt mündete. Rock’n’Roll verkörperte all ihre Wünsche, Hoffnungen und Träume. Er war der Soundtrack, um die geltenden gesellschaftlichen Spielregeln zu durchbrechen.

Ein Wertewandel setzte ein, der die ganze westliche Welt erfasste. Auch die konservative Schweiz. Auch für die Schweizer Jugendlichen war der Spielraum in den konservativen Nachkriegsjahren sehr eng. «Handlungen wie Rauchen oder Ablegen der Krawatte in der Öffentlichkeit waren schon beinahe rebellische Akte, Lehrer waren Respektspersonen, denen nicht widersprochen wurde. Die Freizeit vor allem junger Mädchen war streng kontrolliert», heisst es in Bruno Spoerris «Jazz in der Schweiz». Die Bedingungen für die Jugend-Rebellion waren gegeben. Auch hier wollten Jugendliche als Jugendliche wahrgenommen und akzeptiert werden. Teenager, die die Entbehrung der Kriegsgeneration nicht miterlebt hatten. Trotzdem war bei den Schweizer Jugendlichen jener Zeit nicht Rock’n’Roll angesagt, sondern Jazz, Tanzmusik und swingender Schlager.

Wichtiger als die Musik, war für eine Mehrheit der Jugendlichen der Tanz. In einer Zeit, in der die Schulen noch streng nach Geschlecht trennten, waren Jazz und Tanzmusik für sie eine Möglichkeit, dem anderen Geschlecht näher zu kommen. Im Jazz und der Tanzmusik fand die Schweizer Jugend ihr Ventil zur sanften Auflehnung und zum Protest. Die grosse Mehrheit der Jugendlichen war vergleichsweise angepasst. Sie testeten die engen Grenzen der Toleranz, ritzten an den Normen der damaligen Gesellschaft, zum grossen Bruch kam es aber nicht. In der Schweiz betrieben nur Wenige ernsthaft den Ausbruch aus den bürgerlichen Konventionen.

«Die Schweiz hinkte den Trends hintennach»

Rock’n’Roll und Elvis Presley blieben in der Schweiz ein Randphänomen. «Es interessierte keinen Hundeschwanz, ob da zufällig gerade ein tanzender Stern ebendieser Musik geboren wurde», schreibt Krokus-Bandleader Chris von Rohr in seiner Autobiographie. Auch Zeitzeuge Toni Vescoli machte diese Erfahrungen. Der spätere Sänger von Les Sauterelles hatte sein Erweckungserlebnis 1958 als er den Elvis-Film «King Creole» sah. Doch als der damals 16-Jährige die Platte kaufen wollte, hiess es, dass sie noch nicht erhältlich sei. «So lief das eben damals, in die Schweiz kam alles immer um einiges später! Wir lebten wie in der Steinzeit. Die Schweiz hinkte den aktuellsten Trends stets hintennach.»

Der jugendliche Protest manifestierte sich in der Schweiz am stärksten in der Bewegung der Halbstarken, die Ende der 50er-Jahre auch in Schweizer Städten auftauchten. Es waren halbwüchsige Männer aus einfachen Verhältnissen, die allein durch ihr Verhalten und ihre Kleidung auffielen. Blue-Jeans und Haartolle galten als anrüchig in einer Zeit, als Buben noch kurze Hosen tragen mussten. Halbstarke provozierten aber vor allem durch ihr Verhalten. Sie waren der Schrecken der Chilbis, Dorf- und Jugendfeste, rauchten in der Öffentlichkeit, tranken Bier aus der Flasche und zeigten damit dem Spiessbürgertum die lange Nase. Schon das Nichtstun provozierte. Sie galten als halbkriminell, verwahrlost und ihre Musik war der amerikanische Rock’n’Roll. In den Augen einer grossen helvetischen Mehrheit waren sie Aussenseiter und die Looser der Nation. Nicht zuletzt deshalb hatte es der Rock’n’Roll in der Schweiz schwer.

Rock’n’Roll light setzt sich durch

Immerhin war bei der Deutschschweizer Jugend ab Mitte der 50er-Jahre das in Mundart gesungene Heimatlied und Schweizer Schlager wie wir es von den Geschwistern Schmid kennen, nicht mehr angesagt. Ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte der Schweizer Popmusik. Die geistige Landesverteidigung hatte in der Unterhaltungsbranche ausgedient. Unterhaltungsmusik- und Tanzmusik sollte nicht mehr, wie in den späten 1930er und den 1940er Jahren, Ausdruck von Schweizertum sein. Sie sollte von nun an so zu klingen wie das amerikanische, französische oder italienische Original, wie die Musik der internationalen Vorbilder.

Cover einer Schallplattenhülle, auf dem ein schwarz-weiss Foto von Peter Hinnen zu sehen ist, der in ein Mikrofon singt; auf einem orangen Balken am oberen Rand steht der Titel der EP "For Rocking Teenagers" und ist ein grosses Logo der Plattenfirma Decca angebracht.
EP des Jodlers und Schlagersängers Peter Hinnen «For Rocking Teenagers»: Die ersten Rock ’n’ Roll-Produktionen in den 1950er Jahren klingen noch zahm, da sie meist aus der volkstümlichen Ecke kommen und die Grenze dazwischen noch fliessend ist. (Foto: Archiv Sam Mumenthaler / Decca)

Deshalb setzte sich in der Schweiz eine schlagerhafte Variante des amerikanischen Rock’n’Roll durch. Rock’n’Roll light sozusagen. «Sugar Baby» sang 1958 der Österreicher Peter Kraus und wurde zum grössten Teenageridol im deutschsprachigen Raum. An Rock’n’Roll-Schlagern orientierten sich auch Schweizer Interpreten wie Hazy Osterwald («Rockin’ The Cha-Cha»), Jodelkönig Peterli Hinnen («Tinga-Tänga-Rock») sowie die Geschwister Schmid («Mondschein Rock»). Diese Songs hatten aber nie die rebellische Kraft des amerikanischen Originals.

Besonders beliebt war auch Vico Torriani. Neben Heimatschlagern wie «In der Schweiz» (1955) besang der Bündner zunehmend oft auch Ferienparadiese («Ananas aus Caracas», 1957, «Kalkutta liegt am Ganges», 1960) und bediente damit eine Fernwehromantik, die als Reaktion auf die Heimatlieder aus der Zeit der geistigen Landesverteidigung gedeutet werden kann. Bei den sogenannten Hawaii-Bands war die Fernwehromantik besonders ausgeprägt. Diese exotischen Bands konnten hier wie auch in anderen europäischen Ländern einen beachtlichen Erfolg feiern. Das Phänomen der Hawaii-Bands ist heute fast vergessen, ist aber gerade für den Rock’n’Roll in der Schweiz mehr als eine skurrile Randnotiz. Bands wie die Hula Hawaiians und die Tahiti Hawaiians aus Basel spielten möglichst originalgetreue Musik aus der Südsee mit Hawaii-Gitarre und Ukulele und traten mit dementsprechender Kleidung und Hula-Blumenkranz auf.

Erster echter Schweizer Rock’n’Roller kam aus der Romandie

Die Hawaii-Bands sprengten stilistische Grenzen und waren auch die Ersten, die Elemente des Rock’n’Roll in ihre Musik integrierten. 1957 veröffentlichten die Hula Hawaiians den Instrumental «Chimpanzee Rock»: Es war die erste Schweizer Rock’n’Roll-Nummer. Es folgten 1958 die Tahiti Hawaiians mit ihrer Vokalversion von «Giddy Up A Ding Dong». Aus dem Umfeld der Hula Hawaiians stammen auch die Honolulu Girls, die erste Girlgroup der Schweiz. Es waren vier junge Schülerinnen der Hula Hawaiians, die sich Ende der 50er Jahre formierten und 1960 den Titel «Honolulu Rock» aufnahmen, ein Rock’n’Roll-Instrumentalstück mit Hawaii-Gitarre, Jazz-Gitarre, Ukulele und Bass. Der Erfolg dieser Hawai-Bands blieb bescheiden, der historische Wert ist umso grösser. Es waren die ersten Schweizer Bands, die den Geist des Rock’n’Roll glaubwürdig und authentisch aufnahmen.

Hauptgrund für die helvetische Ablehnung des Rock’n’Roll dürfte sozio-struktureller Art gewesen sein. Denn Rock’n’Roll galt wie später Beat- und Rockmusik als eine Musik der Unterprivilegierten und der Arbeiterklasse. Die Jugendlichen aus dem bürgerlichen und kleinbürgerlichen Mittelstand, der in jener Zeit in der Schweiz besonders stark ausgeprägt war, konnte sich damals wenig mit dieser Musik identifizieren. Rock’n’Roll blieb in der Schweiz auch ein Minderheiten-Phänomen, weil viele Musiker den neuen Sound ablehnten. Kaum ein ernsthafter Jazz- oder Unterhaltungsmusiker liess sich herab, die primitive, neue Musik zu spielen.

Nur ganz wenige Musiker orientierten sich deshalb an der neuen Musik aus Amerika. Doch es gab sie. Der erste echte Schweizer Rock’n’Roller kam aus der Westschweiz. Der Sänger aus Lausanne war ein Schweiz-kolumbianischer Doppelbürger und hiess Gabriel Uribe. Unter seinem Künstlernamen Gabriel Dalar nahm er 1958 verschiedene Songs auf, unter anderen den Song «39 de fièvre», eine französische Adaption des amerikanischen Hits «Fever», dessen Text kein Geringerer als Boris Vian geschrieben hat. Der Kultautor, Chansonnier und Jazzmusiker war damals auch Leiter der Plattenabteilung bei Philips in Paris. Der 1936 geborene Gabriel Dalar konnte in Frankreich einen gewissen Erfolg erzielen, verschwand aber trotzdem schnell wieder völlig von der Bildfläche. Der erste echte Rock’n’Roller der Schweiz ist verschollen geblieben.

Stefan Künzli ist Musikredaktor bei CH Media und Verfasser des Buches: «Schweizer Rock Pioniere – Eine Spurensuche in den rebellischen Gründerjahren» (Zytglogge Verlag).

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