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#SUISA100

Der «Ländler» entstand in der Stadt Zürich

Der «Ländler» entstand in der Stadt Zürich
Der Klarinettist Kasi Geisser (rechts) inszeniert sich mit Emil Christen an der Geige und Roman Stadelmann an der Handorgel.
Fotograf/in unbekannt, Musikarchiv Serge Schmid
Text von Gastautor Markus Ganz
Vor rund hundert Jahren wurde Zürich zum Zentrum einer neuen Volksmusikszene. Hier prägten vor allem Innerschweizer Musiker den Schweizer Ländler – und begeisterten damit bald die Massen. Wie kam es zum neuen Stil und wer waren die «Ländlerkönige»?

Der Musikethnologe Dieter Ringli schreibt zu Beginn des Buches «Die neue Volksmusik» klipp und klar: «Die Vorstellung, dass Volksmusik eine jahrhundertealte unveränderte Tradition sei, ist historisch schlicht falsch». Die Schweizer Volksmusik habe sich stets gewandelt – und zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders stark. Erst dann begann sich die Handorgel in den semiprofessionellen Tanzmusikkapellen zu etablieren. Grund dafür: Instrumente wie das Akkordeon oder das Schwyzerörgeli waren lauter und konnten akkordisch gespielt werden. Dies ermöglichte es, andere Instrumente wie die Geige und die Trompete zu ersetzen, wodurch kleinere, einfacher zu koordinierende und günstigere Besetzungen möglich wurden. Dies wiederum erlaubte es, schneller zu spielen, was auch beim alten Repertoire aus dem 19. Jahrhundert praktiziert wurde.

Inspiration und Publikum in Zürich

So entstand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein neuer Stil, der sich bis in die 1950er Jahre durch eine erstaunlich innovationsfreudige Haltung seiner Exponenten auszeichnete und noch heute als Ländlermusik bezeichnet wird. Madlaina Janett und Dorothe Zimmermann stellen in ihrem Buch «Ländlerstadt Züri» fest, dass «sogenannte Ländlerkönige wie Stocker Sepp, Kasi Geisser oder Jost Ribary in Zürich den Sound prägten, welcher später als Schweizer Nationalmusik in die Geschichte einging». Dieter Ringli schreibt, dass die Ländlermusik in ihrer Hochblüte in den 1930er und 1940er Jahren nationale Bekanntheit erlangt hatte und die unangefochtene Tanz- und Unterhaltungsmusik Nummer eins war.

Dies hatte auch damit zu tun, dass der Ländler im Sinne der Geistigen Landesverteidigung viel zur Definierung der Schweizer Identität beitrug, was vor allem an der Landesausstellung von 1939 in Zürich zum Ausdruck kam. Während des Zweiten Weltkriegs gab es zudem nur wenig ausländische Konkurrenz. Der Erfolg des Ländlers wurde auch durch die in den 1920er Jahren aufkommenden Medien Radio und Schallplatte verstärkt.

Wandlung der Besetzung

Als Grundbesetzung der Ländlermusik etablierte sich schon früh Handorgel(n), Klarinette(n) und Kontrabass, doch wurde mit weiteren Instrumenten experimentiert, Posaune etwa oder Klavier. Das Beispiel von Heiri Meier zeigt, wie stark einzelne Musiker aus der Innerschweiz die Entwicklung dieser eigentlich städtischen Form der Volksmusik prägten.

Der aus dem Luzernischen stammende Klarinettist hatte in den 1920er Jahren in Zürich neuere Stile wie Schlager und Jazz bzw. Swing entdeckt – und sich davon inspirieren lassen, durchaus im Sinn einer Anpassung an den aktuellen Publikumsgeschmack. So kreierte Heiri Meier den Ländler-Fox, eine rhythmische Anlehnung an den Modetanz Foxtrott. Und er führte das Sopransaxofon ein, was in Ländlerkreisen bis heute für Diskussionen sorgt. Heiri Meier gehört auch zu den herausragenden Figuren des Ländlers, weil er zahlreiche neue Stücke wie «Klänge vom Pilatus» komponierte, die sich gemäss Fachleuten durch «Originalität und Unverwüstlichkeit» auszeichnen.

Der ländlich-exotische Reiz

Heiri Meier trat bald auch im Ausland auf, oft als Mitglied der Kapelle von Stocker Sepp. Dieser stammte, wie die meisten der in Zürich stilbildenden Musiker, aus der Innerschweiz, genauer aus Wollerau SZ. Wie die meisten Zuwanderer suchte der Klarinettist in der Stadt nach einem besseren Einkommen und stiess dort auf grosses Interesse an ländlicher Kultur. Deshalb gab auch Stocker Sepp seinen angestammten Beruf als Buchdrucker und Schriftsetzer bald auf und wurde Berufsmusiker. Er und seine Mitmusiker traten aber nicht wie früher üblich im Sonntagsanzug auf, sondern im Hirtenhemd. Gemäss Dieter Ringli trugen auch viele andere Ländlermusiker eine Tracht, um den «ländlich-exotischen Reiz beim städtischen Publikum zu verstärken». Stocker Sepp soll sogar den Namen seiner Formation dem Bedürfnis der Städter nach Ländlich-Bäuerlichem angepasst haben: Er nannte sie «1. Unterwaldner Bauernkapelle», obwohl ihre Mitglieder weder Unterwaldner noch Bauern waren.

Erfolg auch im Ausland

Es erstaunt deshalb nicht, dass der Journalist Kurt Zurfluh den Stocker Sepp auch als umtriebigen Organisator und Vermarkter beschreibt. Um das Jahr 1930 herum soll er mit seiner Kapelle mehrmals für einwöchige Auftritte in Paris und London engagiert worden sein, wo er seine Musik auch aufnehmen liess. Er tat dies seit 1922, weil er früh die Bedeutung der aufkommenden Schallplattenindustrie erkannt hatte, bis 1938 soll er über 400 Stücke auf Schallplatte aufgenommen und erfolgreich verkauft haben. Bei einer Umfrage nach den bekanntesten Musikern in Zürich und Umgebung soll Stocker Sepp gemäss Auswertung der 118 000 (!) eingegangenen Fragebogen 93 568 Stimmen erhalten haben, gefolgt von Walter Wild und dem Zuger Klarinettisten Jost Ribary sen. Höhepunkt seiner Karriere war eine Auftrittsreihe an der Landesausstellung von 1939 in Zürich.

Einzigartige Persönlichkeit

Der Klarinettist Kasi Geisser wurde in Arth SZ geboren und ging in der nahegelegenen Goldauer Glühlampenfabrik in die Lehre als Glasbläser. Dort lernte er Dominik Märchy kennen, mit dem er sich einen guten Ruf als Musiker erspielte. So setzte er bald voll auf die Musik, zog mit 20 nach Zürich und entwickelte sich gemäss Volksmusik.ch zum «wohl einflussreichsten Ländlermusiker der neueren Zeit». Seine «schillernde Persönlichkeit» und sein «unstetes Leben» sollen wesentlich zur Legendbildung beigetragen haben. Doch er wirkte auch als Interpret und Komponist stilbildend, nicht zuletzt schrieb er unzählige Stücke wie «Abend am Vierwaldstättersee». Bereits 1926 spielte er in Berlin eigene Tänze auf Schallplatten ein, kurz darauf entstand in Lausanne eine Reihe von nicht weniger als 20 Schallplatten für das Label Polydor.

Fünfköpfige Länderformation inklusive Jost Ribary sen. spielt in einem Saal mit Parkettboden und tapezierten Wänden.
Der Klarinettist Jost Ribary sen. (ganz links) gilt mit Klassikern wie «Steiner Chilbi» (1933) als erster Ländler-Plattenstar. (Fotograf/in unbekannt, Privatbesitz Familie Ribary)

Neue Massstäbe

Jost Ribary sen., Klarinettist und Saxofonist, setzte ab 1930 spieltechnisch und kompositorisch neue Massstäbe, nicht zuletzt wohl, weil er sich bei einem Klarinettisten des Tonhalle-Orchesters unterrichten liess. Entsprechend erstaunlich ist, dass seine unzähligen Stücke bzw. «Tänzli» trotz ihrer Raffinesse als volkstümlich empfunden wurden. Mit Ländler-Klassikern wie insbesondere der «Steiner Chilbi» und dem von Martha Wild getexteten Schlagerlied «Komm in meinen Rosengarten» wurde er zu einem der erste Plattenstars, der sogar in England und Holland auftrat. Auch seine Radioaufnahmen trugen viel dazu bei, dass sogar Ländlerfreunde aus dem Ausland, auch Amerika-Schweizer, nach Zürich pilgerten, wo er oft im Niederdorf auftrat, meist in der Ländler-Wirtschaft «Konkordia», über der er auch eine Reparaturwerkstätte für die Handharmonika eröffnete und zeitweise wohnte. Eine seiner Kompositionen heisst denn auch «Stimmung im Niederdorf».

Buchtipps

Dieter Ringli: «Schweizer Volksmusik von den Anfängen um 1800 bis zur Gegenwart» (Verlag Mülirad).

Dieter Ringli, Johannes Rühl: «Die Neue Volksmusik. Siebzehn Porträts und eine Spurensuche in der Schweiz» (Verlag Chronos).

Madlaina Janett, Dorothe Zimmermann: «Ländlerstadt Züri. Alpen, Tracht und Volksmusik in der Limmatstadt» (Elster Verlag).

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