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«Schweizer Filmmusik zeigt eine grosse Vielfalt und hohe Qualität»

«Schweizer Filmmusik zeigt eine grosse Vielfalt und hohe Qualität»
Mathias Spohr, der künstlerische Leiter der «Swiss Film Music Anthology», ist Musik- und Medienwissenschafter mit Lehraufträgen an den Universitäten Bayreuth, Bern und Wien.
Foto: Markus Ganz
Gastbeitrag von Markus Ganz
Die von der FONDATION SUISA herausgegebene Box «Swiss Film Music» bietet mit drei CDs, einer DVD und einem Buch einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der Schweizer Filmmusik von 1923 bis 2012. Ein Gespräch mit dem Musik- und Medienwissenschaftler Mathias Spohr, der als künstlerischer Leiter wirkte.

Filmmusik wird in der Regel kaum beachtet. Wird sie ihrer Meinung nach unterschätzt?
Ja, gerade dann, wenn sie ihre Aufgabe sehr gut erfüllt. Dann nimmt man sie häufig gar nicht richtig wahr, weil man nicht bewusst zuhört ‒ und das ist meistens auch ihre Aufgabe. Umgekehrt nimmt man die Filmmusik häufig wahr, wenn sie nicht so gut passt. Natürlich gibt es Konzeptionen von Filmmusik, die von diesem Prinzip abweichen.

Ist nicht gerade diese Funktionalität der Filmmusik der Grund dafür, dass sie oft geringgeschätzt wird? Denn bedeutet dies nicht auch, dass die Filmmusik ohne die Bilder nicht wirken würde?
Nein, in dieser Anthologie ist viel Filmmusik ohne Film vertreten, und ich finde nicht, dass sie an Wirkung verliert. Bei einigen Stücken muss man nachlesen, in welchem Zusammenhang sie stehen. Aber die Musik wirkt auch so, und man merkt, wie sie gedacht ist. Man nimmt strukturelle Eigenschaften und die Komplexität mancher Filmmusik sogar besser wahr ohne Film; dort verschmilzt beides.

Kann man die Qualität der Filmmusik an sich also ohne die Bilder besser wahrnehmen?
Ja, aber es kommt sehr auf die Art der Musik an. Es gibt Filmmusik, die sich nicht vom Bild trennen lässt, und es gibt solche, die man sich sehr gut ohne Film anhören kann.

Sie haben zu den drei CDs dieser Anthologie eine DVD hinzugefügt, die auch die Bilder zur Musik dieser Beispiele bietet. Was waren die Kriterien für die DVD-Auswahl?
Bei einigen Beispielen ist die Abstimmung der Musik aufs Bild entscheidend, um ihre Qualität wahrnehmen zu können. Dies gilt besonders für Trickfilme und Werbefilme, wo in wenigen Sekunden etwas vermittelt werden muss. Wir beschränkten uns bei der DVD zudem auf Kurzfilme, die wir als Ganzes bringen konnten, so dass stets auch die Gesamtkonzeption der Musik erkenntlich wird. Mit Kurzfilmen ist es leichter, das Zusammenwirken von Musik und Bild zu vermitteln, als mit Ausschnitten, die aus einem unbekannten Zusammenhang stammen.

Wie kam dieses aufwändige Projekt zustande?
Die FONDATION SUISA wollte im Rahmen ihrer Anthologien etwas über Schweizer Filmmusik machen. Wir diskutierten viele Umsetzungsmöglichkeiten, denn es ist ein kompliziertes Feld. Es gibt keinen Stil und kein Genre «Filmmusik», da alle Arten von Musik dafür verwendet werden, es gibt auch nur wenige wissenschaftliche Werke, die sich mit Schweizer Filmmusik auseinandergesetzt haben. Es wurde dann entschieden, dass unsere Anthologie die Geschichte der Schweizer Filmmusik zeigen soll. Daraufhin wurde eine Arbeitsgruppe formiert, die hauptsächlich aus Musik- und Filmwissenschaftlern bestand, plus je zwei Vertreter der FONDATION SUISA und der Cinémathèque Suisse. Man traf sich mehrmals und arbeitete ein Konzept aus.

Wie haben die beteiligten Fachleute die Beispiele ausgesucht?
Wir arbeiteten mit einem Kriterienkatalog, der sehr unterschiedliche Aspekte umfasste. Der Schwerpunkt sollte auf Schweizer Filme und Schweizer Sujets gelegt werden, aber nicht ausschliesslich. Auch ausländische Filme, die von Schweizer Komponisten vertont wurden, sollten berücksichtigt werden.

Und dann wurde in den Archiven gesucht?
Ja, ich etwa war für historische Beispiele häufig in den Archiven der Zentralbibliothek Zürich oder der Paul-Sacher-Stiftung in Basel, die Musikpartituren von Filmen besitzen. In den meisten Fällen gibt es aber keine Noten mehr, weil sich die Kreation von Musik in den letzten 30 Jahren stark auf den Computer verlagert hat.

Aber ging es nicht um konkrete Aufnahmen?
Doch, aber wir wollten im Buch auch Notenbeispiele zeigen und brauchten sie als Grundlage für die Kommentare. Für die Aufnahmen gibt es viele Archive, in denen wir gesucht haben, etwa das Medieninformationszentrum der ZHdK und die Cinémathèque Suisse.

Was hat Sie am meisten überrascht beim ersten Durchhören des gesamten Materials?
Die grosse Vielfalt und eine hohe Qualität, und zwar von Beginn bis heute. Dies zu zeigen, war meine Motivation, zumal dies kaum bekannt ist.

Wie zeigt sich diese Vielfalt? Sie schreiben im Begleitbuch, dass Sie nichts spezifisch Schweizerisches in der Filmmusik entdeckt hätten.
Hier spielt sicherlich eine Rolle, dass in der Schweiz drei Sprachregionen zusammenkommen. Dies führt zu Kontakten im gleichsprachigen Ausland; Berlin, Paris oder die italienische Cinecittà haben als Produktionsorte auch für die Schweiz eine Bedeutung.

Haben Sie auffallende Unterschiede zur Filmmusik in anderen Ländern festgestellt, die ja teilweise viel grössere und deshalb spezialisierte Filmszenen kennen?
Ein grundsätzlicher Unterschied rührt daher, dass die Schweiz nicht zentralistisch ist. Im Ausland gibt es für viele Bereiche grosse Zentren ‒ die eine entsprechende Sogwirkung haben. In der Schweiz hingegen können sich kleine Nischen besser behaupten. Vielen Produkten, nicht nur Filmen und Filmmusik, sieht man an, dass sie aus einer Nischenkultur stammen, die nicht von einem Zentrum aufgesogen wird.

Hat vielleicht gerade dies zur grossen Vielfalt beigetragen?
Ja, dies hängt sicherlich damit zusammen.

Werbe-Jingles sorgen wegen ihres kommerziellen Charakters oft für ein Naserümpfen. In der Anthologie fallen allerdings frühe Beispiele auf, deren Musik überraschend modern klingt ‒ wie erklären Sie sich diese Offenheit?
In der Zeit der ersten TV-Werbespots hatte man noch nicht so viel Erfahrung mit dieser Art von Werbung: Man liess die Musiker machen, gab ihnen die Freiheit, zu experimentieren. Heute reden viel mehr Leute mit, auch weil das Risiko gewachsen ist. Aber wenn es dem Produkt nützt, ist auch heute sehr viel möglich.

Die Anthologie reicht bis 1923 zurück. Haben Sie markante Wendepunkte festgestellt, bei denen sich die Musik oder der künstlerische Zugang zur Vertonung verändert hat?
Es gibt natürlich Modeerscheinungen. Viele Veränderungen sind aber auch auf technische Grundlagen zurückzuführen. Zu Beginn des Tonfilms musste die Musik bei den Dreharbeiten parallel zum Dialog eingespielt werden. Diese Musik ist zwangsläufig anders, als wenn man sie separat auf Tonband aufnehmen kann, wie dies später erst möglich wurde. Eine völlig neue Situation ist mit dem Heimstudio entstanden, in dem man ohne grossen technischen Aufwand zuhause Musik schaffen und aufnehmen kann, zunächst mit dem Tonband, später mit dem Computer. Auch die Videotechnik vereinfachte sich. Wichtig war etwa die Neuerung, dass man Bild und Ton auf demselben Träger aufnehmen und bearbeiten kann. All dies hat die Filmmusik beeinflusst, natürlich auch die Medien von Radio, TV, Kino bis zum Internet.

Überraschend früh wurden schon elektronische Instrumente eingesetzt …
Ja, schon in der Stummfilmzeit gab es das Russolophon, mit dem man Geräusche machen konnte, später kamen die Ondes Martenot hinzu.

Diese wurden bereits in den 1920er Jahren in der Filmmusik eingesetzt. Das ist sehr früh, wenn man bedenkt, dass sich elektronische Instrumente erst sehr viel später breit durchsetzen konnten …
Ja, dies war von Anfang an problemlos möglich. Es scheint mit dem Medium Film zusammenzuhängen, dass man offener gegenüber dem Einsatz von neuer Technik war. Arthur Honegger setzte die Ondes Martenot mehrmals ein, sowohl als Solo- wie als Orchesterinstrument, wie man am Beispiel «L’Idée» gut hören kann. Er verlangte provokativ, dass die elektronischen Instrumente ins Sinfonieorchester aufgenommen werden ‒ was bis heute höchstens für einzelne Projekte geschehen ist.

Was ist ihnen wichtig nach Abschluss dieser grossen Arbeit?
Am Herzen liegt mir, dass das „Kapitel Filmmusik“ nicht als erledigt betrachtet wird. Ich verstehe diese Anthologie als Anfangspunkt und als gute Voraussetzung, um sich weiter mit Filmmusik zu beschäftigen. Ich könnte mir etwa vorstellen, dass die zur Anthologie eingerichtete Website die Grundlage für eine Art Filmmusik-Wiki wird, zu der alle Interessierten etwas beitragen können.

«Swiss Film Music Anthology 1923 – 2012». Box mit drei Audio-CDs, einer DVD und einem 400-seitigen Buch in deutscher, französischer, italienischer und englischer Sprache. Hrsg. Mathias Spohr im Auftrag der FONDATION SUISA (Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1265-2, 69 Franken).
Swiss-Film-Music-Anthologie
Die «Swiss Film Music Anthology 1923 – 2012» ist im Buch- und Handel erhältlich oder kann über die Website www.swissfilmmusic.ch bestellt werden. (Foto: zVg)

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