In jungen Jahren habe er einen Roman mit dem Titel «Der Dandy» schreiben wollen: Die Hauptfigur nimmt ein Taxi und fährt zur Oper. Von dieser kurzen und doch ausgedehnten Fahrt sollte das Buch handeln – und dabei wohl ein wenig auch von ihm selber. Egal, ob das nun erfunden war oder ob sich im Nachlass tatsächlich ein Romanfragment finden wird: Rolf Urs Ringger wusste natürlich, was für ein Futter er mit einer solchen Anekdote dem Journalisten gegenüber gab. Schelmisch stellte er sich vor, wie das Bild des Dandys Ringger entstand, und freute sich, denn das war er ja auch: der Dandy unter den Schweizer Komponisten, unverstellt eitel, aber auch mit dieser Eitelkeit lustvoll spielend. Als Adrian Marthaler sein Orchesterwerk «Breaks and Takes» fürs Fernsehen visualisierte, spielte Ringger persönlich einen Delius-ähnlichen, melancholischen Komponisten an einem Swimming Pool.
«Ich liebe das Kokettieren. Das gibt ja doch auch meiner Produktion das leichte und spielerische Moment. Und es kommt ja beim Publikum auch sehr gut an. Und ich habe Freude daran.», sagte er mal im Gespräch. «Das Moment des Narzisstischen, jetzt wertfrei verstanden, ist doch sehr stark bei mir spürbar.» Ich mochte ihn für diese Selbstironie, die bei ihm ganz natürlich war. Er brachte eine ganz eigene und auffallende Farbe in die zur Bescheidenheit neigende Zürcher Musikszene, er war mondän, vielgewandt, urban, wenn er den Sommer auch immer auf Capri verbrachte, wo einige sinnliche Klangbilder entstanden. Zu diesem Image hat der Komponist selber reichlich beigetragen.
Ton- und Wortkünstler
Ringger war aber auch ein Zürcher. Hier wurde er am 6. April 1935 geboren, hier wuchs er auf, lebte und arbeitete hier, ein Wort- und Tonkünstler. In Küsnacht besuchte er das Seminar, bei Kurt von Fischer am Musikwissenschaftlichen Seminar Zürich dissertierte er über Weberns Klavierlieder. Als rur. gehörte er über Jahrzehnte zum Kritikerstab der «Neuen Zürcher Zeitung», lieferte pointierte und elegante, zuweilen bewusst nachlässige Texte, porträtierte aber auch schon früh jene Komponisten, die später erst weithin Beachtung erhielten wie zum Beispiel Edgard Varèse oder Charles Ives, Erik Satie und Othmar Schoeck. Neben den grossen Figuren finden sich da die Einzelgänger, und gern hat er der Nostalgiker gedacht, zu denen er sich selber wohl auch zählte. In Publikationen wie der Aufsatzsammlung «Von Debussy bis Henze» hat er diese Porträts gebündelt.
Kompositionsunterricht erhielt Ringger ganz früh privat bei Hermann Haller. In den Darmstädter Ferienkursen 1956 studierte er bei Theodor W. Adorno und Ernst Krenek, kurz darauf noch für ein halbes Jahr bei Hans Werner Henze in Rom. Es waren ästhetische Antipoden, denn da schon hatte sich Henze aus der Avantgardeszene zurückgezogen. Obwohl Ringger später mit einem süffisant erwartungsvollen Lächeln erzählte, mit Adorno habe er sich eigentlich besser verstanden als mit Henze, folgte er doch dessen Abwendung von den streng seriellen Techniken und der Hinwendung zu einer sinnlichen Klangsprache. Das hört man schon seinen Titeln an: «… vagheggi il mar e l’arenoso lido …» für Orchester (1978), «Souvenirs de Capri» für Sopran, Horn und Streichsextett (1976–77), «Ode ans Südlicht» für Chor und Orchester (1981) oder «Addio!» für Streicher und Röhrenglocken. Mit «Der Narziss» (1980), «Ikarus» (1991), und «Ippòlito» (1995) schuf er drei Ballettmusiken. Den grossen musikdramatischen Formen freilich hat er sich offenbar nie zu nähern versucht.
Sinnliche Klangsprache
Ringger war einer der ersten, der sich in den 70er-Jahren in Henzes Gefolge, aber durchaus frühzeitig im Trend, wieder neotonaler Elemente bediente. Derlei vermerkte ich damals in einer Kritik entsprechend bissig. Natürlich reagierte er bei aller Selbstironie entsprechend beleidigt. Und doch kam er ein paar Jahre später genussvoll darauf zurück und verkündete stolz, ich hätte ihn damals als den ersten Neotonalen hierzulande bezeichnet. Die postmoderne Wende hatte ihm recht gegeben.
So spielte seine Musik gern mit Zitaten (von Debussy etwa), schwelgte in impressionistischen Farben oder in hochromantischen Gesten, blieb aber dabei durchsichtig und leicht. Am höchsten freilich schätze ich ihn als urbanen Flaneur. Nicht dort, wo er Zeitungsausschnitte auf etwas kindische Weise zu einer Collage («Chari-Vari-Etudes», «Vermischtes») für Kammersprechchor montierte, sondern in seinen musikalischen Promenaden. Im «Manhattan Song Book» (2002) für Sopran, drei Sprechstimmen und fünf Instrumente ist er in New York unterwegs, beobachtet, notiert, kommentiert in elf Songs, frech, unbeschwert, auch da in koketter Selbstbespiegelung. Als ihn eine nicht sehr freundlich als «crazy witch» bezeichnete Dame fragt, ob er der «famous composer» sei, antwortet er kurz: «No, it’s my cousin.»
Nun ist er gestorben. «Licht!» steht zuoberst in der Todesanzeige, darunter die Sätze: «Er liebte die Sonne des Mittelmeers, die Musik und die Jugend. Er dankt allen, die ihm im Leben Gutes erwiesen und seine Musik gefördert haben.» Capri wird ihn vermissen. Sein «Notizario caprese» (2004) endet mit den Worten «(sehr ruhig, fast ohne Pathos) Se non c’è Amore, tutto è sprecato. (sehr nüchtern) Wo keine Liebe ist, ist alles vergeblich. Ein Grabspruch in Capri; ungefähr 2020.»
Der Nachruf von Thomas Meyer ist zuerst in der «Schweizer Musikzeitung», Nr. 9/10 vom September/Oktober 2019 erschienen.