Im Zug nach Lausanne halte ich in Gedanken meine Wünsche für den Besuch am diesjährigen Label Suisse fest. Ich will Neues für mich entdecken, die Bekanntschaft zu bereits Liebgewonnenem auffrischen, mir die unterschiedlichsten Stilrichtungen anhören, kurz: für 3 Tage in das Schweizer Musikschaffen eintauchen. Mein Plan dazu: Ich lasse mich spontan durch das reichhaltige Angebot des Festivalprogramms treiben. Dabei werde ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben, schlichtweg verdrängen.
Im Hotel angekommen verkleide ich mich für den einzigen fixen Programmpunkt meiner Entdeckungs- und Genussreise. Wer zusammen mit Bundesrat Alain Berset die Vergabe des ersten Schweizer Musikpreises miterleben darf, sollte sich vielleicht etwas Schickes anziehen, sagt mir mein Taktgefühl. Elegant herausgeputzt begebe ich mich zum ersten und letzten Mal an diesem Wochenende zu Fuss auf den Aufstieg vom Stadtteil «Sous-Gare» den Hang hinauf.
Ein Ticket für die Lausanner Métro ist beim Label Suisse ebenso Gold wert wie ein handfester Plan für die Konzertbesuche, denke ich. Übrigens meine ich damit auch einen brauchbaren Stadtplan, denn als Nichteinheimischer kann man sich in den verzweigten Gässchen zu Berg und Tal prächtig und wiederholt verlaufen. Zumal die Wege zu den verschiedenen Festival-Lokalitäten mit eindeutiger Beschilderung bestimmt kenntlicher gemacht werden können, als es dieses Jahr der Fall war.
In der Opéra de Lausanne freue ich mich am Ende der aufwändig inszenierten und mehrheitlich kurzweiligen Show mit und für den Preisträger des ersten Grand Prix Musik, Franz Treichler. Mit dem Entscheid für den «ewigmorgigen» Sänger und Chefdenker der Young Gods sei der «richtige Gewinner zur richtigen Zeit» ausgewählt worden, schreibt «Der Bund» in der Folge: «Es geht [beim Schweizer Musikpreis] um Innovation und um Strahlkraft im In- und Ausland. Der Preis geht an einen Mann, der die Zukunft der Rockmusik vorweggenommen hat.»
Bleibt zu erwähnen: Alle Nominierten wären für mein Empfinden würdige Preisträger des erstmals vom Bundesamt für Kultur (BAK) verliehenen Schweizer Musikpreises gewesen. Angesichts der Qual der Wahl hätte ich mit niemandem aus der 7-köpfigen Jury rund um die Schwyzer Dirigentin Graziella Contratto als Präsidentin an der Spitze tauschen wollen.
Apropos Qual der Wahl: Ein flüchtiger Blick auf das Label-Suisse-Programm ruft mir in Erinnerung, dass das Festival inzwischen in vollem Gang ist. Die Kollegen haben bereits We Love Machines und Domi Chansorn gehört. Soeben haben Anna Aaron und Polar gespielt. Jetzt steht die Legende Dieter Meier auf der Bühne. Zu Wolfman und Camilla Sparksss wurde mir geraten. Der Jazzer Tobias Preisig sei ein Geheimtipp …
Vom Apéro riche nach der Preisverleihung mache ich mich auf den Weg zur Place de l’Europe. Dort ist mit Verpflegungsständen und Open-Air-Bühne gleich nebenan so eine Art Zentrum des Festivals. Die Zeit reicht noch für den erfrischend unbekümmerten Auftritt des Genfer Frauenrockduos The Chikitas im Club Le Romandie. Die letzten Takte von Stress, der auf der Open-Air-Bühne auf der Place Centrale gefeiert wird, nehme ich mit auf den Rückweg zur Nachtruhe im Hotel.
Am Samstag stehen insgesamt 33 Veranstaltungen auf dem Programm. Bereits um 11 Uhr startet der musikalische Reigen mit dem Kiosque à Musiques, bei dem unter anderem die Landstreichmusik, die Klezmer-Jazz-Formation Yanac und das Orchester Les Délices de Suzy mit Chansonnière Yvette Théraulaz zu hören sind.
In der warmen Nachmittagssonne bringt die Bieler Popband Pegasus das Publikum von Jung bis Alt auf der Place Centrale zum Mitsingen und Mitklatschen. Auf zufällig mitgehörten Rat von neben mir stehenden Besuchern begebe ich mich in die EJMA, die «École de Jazz et de Musique Actuelle». Dort entdecke ich die schmissigen Folk-Pop-Volkslieder von Corin Curschellas und ihren Mitmusikern und bin davon begeistert.
Mir fällt ein, wie zuvor jemand witzelte: «Blasmusik klingt für mich immer nach Guggenmusik.» Das Gegenteil beweist am Frühabend die Big Band de Suisse Romande mit ihrem Gast-Solisten Erik Truffaz. Ich pilgere weiter in die Kirche St-François, wo das Vokal-Ensemble La Sestina aus Neuchâtel Choralstücke des spanischen Renaissance-Komponisten Francisco Guerrero durch die gotischen Bögen des einstigen Franziskanerklosters schweben lässt.
Nach einem Happen zu essen von einem der vielen Verpflegungsstände rund ums Festivalzentrum kann ich mir The Young Gods auf der Open-Air-Bühne nicht entgehen lassen. Danach stehen unzählige Menschen vor dem D! Club für The Animen Schlange. Soll ich jetzt noch mit dem Shuttle-Bus ins Les Docks fahren und mir Rootwords anhören? Einen Fussmarsch ins ehemalige Kino Le Bourg zum Konzert vom Imperial Tiger Orchestra unternehmen? Oder doch lieber auf den Auftritt von Kadebostany auf der Open-Air-Bühne warten? Es hat leicht zu regnen begonnen. Ich bin erschöpft. Deshalb entscheide ich mich für die Rückkehr ins Hotel. Morgen ist ein weiterer Festivaltag …
Auf dem Weg zum SUISA Contact Corner im etwas abgelegenen «Marché de la Musique» (Bourg-Plage) umfliessen mich am Sonntagmorgen die Klänge von «Avant l’aube», dem Klassik-Jazz-Elektro-Projekt von Erik Truffaz mit Franz Treichler und dem Orchestre de Chambre de Lausanne.
Im «Marché de la Musique» ist der Betrieb das ganze Wochenende über leider nicht sehr gross. Am Contact Corner der SUISA ergeben sich dennoch einige interessante Gespräche. Vereinzelt sieht man auch ein paar bekannte Gesichter aus der Schweizer Musikszene in angeregte Diskussionen vertieft.
Gerade als ich mich vom charmanten Bourg-Plage und von den Business-Themen verabschiedet habe, um wieder in die Welt der Musik einzutauchen, erreicht mich wie von einem anderen Stern eine unerwartete Nachricht von zu Hause. Aus privaten Gründen muss ich viel zu früh die Heimreise antreten.
Vom Kollegen kriege ich tags darauf berichtet, wie der welsche Kinderlieder-Star Henri Dès bei seinem Auftritt die Massen mobilisiert und für strahlende Kinder- wie Elterngesichter sorgt. Hin und her kreisen auf der Rückfahrt die Gedanken, wohin mich meine Entdeckungs- und Genussreise noch geführt hätte. Zu den Jazzrebellen Lukas Niggli und Andreas Schaerer? Zum wiedergeborenen Metal-Trio Coroner? Zum Klang- und Rhythmustüftler Julian Sartorius? Keltischer Pop von den Walliser Anach Cuan? Das Heimspiel von Bastien Baker? Energiegeladener Rock von den Hathors aus Winterthur? …
A la prochaine, Label Suisse!
Die SUISA und die FONDATION SUISA haben das Festival Label Suisse 2014 finanziell unterstützt.