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Musik! Musik!
Jürg Halter hält seine Festrede anlässlich der Jubiläumsfeier der SUISA am 23. Juni 2023 im Aura Club in Zürich.
Foto: Martin Bissig
Von Jürg Halter, SUISA-Mitglied seit 2005
Festrede zum 100-jährigen Bestehen der SUISA.

Lange und sehr leise. Diese Töne, hört ihr sie auch? Und diesen Puls, spürt ihr ihn? Nein? Hörst du mich denn nicht? Was soll ich sagen, ja … ich bin die Musik. Bin so frei und spiele hier zum 100-Jahre-SUISA-Festakt auf. Doch was heisst hier «ich»? Menschen liessen und lassen mich entstehen, lernen die Welt durch mich anders zu sehen. Klang-Farben-reich. Ich verbinde und trenne, treffe Töne und missklinge – aber allein in deinem Ohr komme ich zu mir. Musik! Musik! Bin sprechende Musik, mehrstimmige Sprachmusik. Willkommen zu diesem musischen Trip!

Oh, Mensch! Schon sehe ich dich an einem Fluss flanieren – eine von Gitarren begleitete Stimme singt vom süssen Leben in Strophen und Refrains. Du legst deinen Kopf in den Nacken, schliesst die Augen, hältst inne, bist ganz Lied.
Und nun, schau da, du sitzt geneigt über einen widerspenstigen Vertrag im Büro – es läuft sogenannte Konzentrationsmusik – du denkst, wäre ich bloss nicht hier in diesem Augenblick.
Ja, gestern noch, du in einem Bus, dich durch Playlists klickend, «Melancholie», «Rap» oder «Klassik»; hast dich dann doch für einen Podcast über Entscheidungshemmungen entschieden, hinterlegt mit seichter Popmusik – dachtest: «Wenn das nur nicht der falsche Weg ist!»
Und gerade jetzt, oh, Mensch, erkenn ich dich dort an einem See, in dem sich demütig Bäume spiegeln, als wollten sie sich selbst vergewissern. In deinen Ohren hebt Walfischgesang an, der von Reisen in unbekannte Tiefen kündet.
Und siehe da, ach Mensch! Du vor einem Bahnhof auf der Treppe, jemand singt betrunken von griechischem Wein – auch du fragst dich indes: Wo eigentlich bin ich daheim?

Musik, Musik! In ihr findest und verlierst du dich – stets im Wandel, werd ich gespielt, notiert, gesungen, programmiert, gerappt, inszeniert. Spreche in Tausenden von Sprachen, Stimmungen, Tempi und Dynamiken. Alle hören mich anders. Bin eine altbekannte und neue Melodie zugleich, bin Lied, bin Symphonie, Rhythmus, Harmonien, die in Harmonien aufgehen. Bin Vielklang. Wiederhole mich, schlage in deiner Brust, verlasse dich als Beat – öffne Ohren und manchmal Herzen – begleite dich, vom ersten bis zum letzten Ton.

Dort hinten! Das darf doch nicht wahr sein! Du vorm Bildschirm, im Blick eine Matterhorn-Werbung, es erklingt ein Berndeutsches Lied … fast verliert dein Lokalpatriotismus den Kompass – in dir ein grenzüberrollender Bass. Dahin! Dahin!
Du in einem Café sinnierend, aus Lautsprechern in deinem Rücken werden zwangsoptimistisch zwangsoptimistische Hitparaden-Hits angekündigt, die Eingangstüre schwingt auf, von draussen: Demonstrations-Akustik – ist das der Klang der Politik?
Schau an! Du genervt in der Telefonwarteschlaufe einer Versicherung konfrontiert mit wohltemperierter, toter Musik – ja, oh, Schreck, auch das bin ich!
Auf einmal: Ein unerwartetes Break! Du stehend vor dem Grab eines Freundes … ein trauriges Lied erzählt von dem, was du nicht auszudrücken vermagst – ich tröste dich. Musik. Musik.
Hey, Mensch, erinnerst du dich? Besuchtest in der Vorweihnachtszeit aus verwandtschaftlichen Pflichten mal wieder eine Kirche – unerwartet wurdest du von Gospelmusik bewegt. Fragest dich beschämt, was eigentlich deine Ersatzreligion sei. Ich flüsterte dir zu: Ich! Ich! Ich! Musik! Musik! Und gut ist!
Schon sehe ich dich schwitzend auf einem Rad im Keller, Selbstoptimierungsmusik treibt dich an! Gehört das zu deinem Lebensplan?
Mensch, nun auch noch das! Du an einer Hochzeit, betrachtest müde das zu 80er-Pathos überm Parkett schwebende Brautpaar … einsamer du nie warst. Musik ist manchmal zu viel – zu viele Gefühle auf einmal!

Pssst … was ist das? Plötzlich diese Stille, die Stille zwischen zwei Liedern – als wäre Stille nicht auch selbstredend Teil der Musik. Du zählst innerlich vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden ab, dann tastest du, mit einem Mal fernwehsinnig, nach deinen Ohrmuscheln – was ist das für ein Rauschen, das du jetzt vernimmst? Meeresrauschen?

Nein! Es knackt und zischt, schon sitzt du an einem Lagerfeuer, ganz bei dir, doch, oh, oh, schon nimmt jemand ein Instrument zur Hand und legt los – wie viele Lagerfeuergitarristen kann ein Mensch ertragen? Peinlichkeit ist manchmal nur mit peinlichen Reimen zu hinterfragen – Refrain!
Oh, Mensch! Du vor dem Termin bei der Scheidungsanwältin auf der Toilette, in deinen Kopfhörern spielt Heavy Metal; dein Leben kommt dir manchmal wie eine Musical-Parodie auf eine Oper vor.
Akut du aus allen Wolken fällst, kommst mitten in einem grossen Open-Air-Gelände wieder zu dir: Oh, wow! Vor lauter Show verkommt die Musik zum berechnenden Animationssoundtrack – du fasst dir erbittert an deine klebrigen Ohren! Jemand von der Bühne aus schreit: «Bitte kein Kulturpessimismus, hier geht’s um Musik!» Du denkst: Wenn das ein Widerspruch ist, will ich ein stummer Schrei sein! Ich rufe dir zu: Bitte, nein! Komm! Ich musiziere dich fort von hier!
Schnitt! Du irgendwo im Getümmel einer Einkaufsstrasse: Ziehst dir die Stöpsel aus den Ohren: Stimmen, Brabbeln, Reden, Rascheln, Rattern – was ist das? Du fragst: «Wem gehört dieses Lied? Ist das schon neue Musik?»

Auch ich, die Musik, frage mich hin und wieder: Wem gehöre ich? Wer verdient wie viel an mir? Existenzielle Zweifel lassen mich aus dem Takt geraten – ich sprechsinge rasch weiter auf der Suche nach dem richtigen Ton. Doch Halt! Ist es überhaupt noch ein Mensch, durch den ich zu dir spreche? Oder ist’s bereits die allseits so umstrittene wie begehrte Künstliche Intelligenz, die mich, die uns hier vorführt? Und ist diese Stimme urheberrechtlich überhaupt geschützt? Nicht? Wer benützt all die Stimmen, die durch mich sprechen, singen und rappen vielleicht schon morgen gegen ihren Willen? Hat die Digitalisierung uns nicht längst schon willenlos kulturell angeeignet? Ist das das Ende der Musik? Was rede ich hier? Ich spiele wie entrückt – als hätt ich einen irren Hörsturz, verrückt!

Nun … was weiss ich … ich sehe Menschen, die blicken sich in einem vollen Saal um … ein Sich-Räuspern ist zu vernehmen … ein Telefon leise vibriert … man schluckt leer … jemand flüstert jemandem ins Ohr: «Wer eigentlich ist dieser Mensch oder dieses Hologramm dort vorne, durch den, durch das, angeblich die Musik höchst selbst spricht? … doch, oh, nein, schau, ich glaub, schon spricht es weiter aus ihm!»

Ja! Musik als Zumutung! Oh! Siehe da! Was höre ich denn da voraus? Welch Überraschung! Nein, ich halluziniere wahrlich nicht. Welch unerwartete Freude! Kaum zu glauben! In ein paar Stunden schon sehe ich euch alle in einem festlichen Saal, festlich an diversen Instrumenten sitzen und spielen, so selbstverständlich leicht wie in einem orchestralen Traum … ein jeder von euch wird sich anfänglich fragen: Wie nur bin ich geraten in diesen beseelten Raum? Und was ist in mich gefahren? – Keine Frage, ich, ich, ich! Die Musik, die bereits leise in euch spielt, wird euch bald gänzlich übernehmen. Lauscht nur tief in euch hinein. Ihr werdet Teil eines grossen Orchesters sein. Ja, ihr müsst das Leben als Konzert verstehen und dieses will heute Nacht eine feierliche Symphonie zum Besten geben – Tonkunst bringt uns in wenigen Stunden alle frei zum Schwingen und Schweben!

Und willst du all dem keinen Glauben schenken, so halte einfach weiterhin die Ohren offen und sei dir sicher, irgendwo da draussen spielt auch ein Lied alleine für dich – sei nur achtsam! Du weisst es selbst am besten: Im Anfang war nicht das Wort, sondern der Urknall – also der Auftakt zu einem Lied, das noch immer spielt. Hörst du es? Hört ihr es? Zweifle, aber verzweifle nicht. Musik immer auch Hoffnung ist!

Somit schliesse ich: Ein Hoch auf alle, die Musik schaffen, verteidigen, zelebrieren und verbreiten, ein Hoch auf mich, die Musik! Die Musik, die das Leben spielt! Ja, Musik zu spielen heisst zu leben! An diesem Feiertag und zukünftig! Feiert und lebt Musik! Ich wünsche euch heute Nacht allen einen guten Gig! One Love! Musik! Musik!

Jürg Halter, Schriftsteller, Spoken Word Artist und bildender Künstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. Regelmäßig Auftritte in ganz Europa, in den U.S.A., in Afrika, Russland, Südamerika und Japan. Zahlreiche Buch– und CD-Veröffentlichungen, Arbeiten fürs Theater und Ausstellungen. Als Kutti MC war er zudem zwischen 2005 und 2015 eine prägende Figur der Schweizer Musikszene. Zuletzt erschienen der Roman «Erwachen im 21. Jahrhundert» (Zytglogge, 2018) und die Gedichtbände «Gemeinsame Sprache» (Dörlemann, 2021) und «Verlassenes Boot treibt Richtung Mond» (Scheidegger & Spiess, 2023). Im Frühling 2023 lancierte Jürg Halter mit dem Song «Wir sind gute Menschen» sein neues Musikprojekt Achtung Niemand.
www.juerghalter.com
www.achtungniemand.ch

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