Als Bassbariton ist Gaudenz Werner Wigger an vielen musikalischen Orten zuhause, singt Musik aus allen Epochen vom Vorbarock bis zur Gegenwart, ob Lied, Konzert oder Oper, besonders gerne auch wenig bekannte Stücke. Er kombinierte schon Volksliedsätze von Brahms mit dem Zyklus «Das stille Leuchten» von Othmar Schoeck und war als Raphael in Haydns «Schöpfung» zu hören. Als Komponist zeigt der gebürtige Aarauer in seinem neuen Stück «Schwall» einen prägnanten musikalischen Ausdruck – und ist doch schwierig zu verorten. Selbst er zögert im Interview auf die Frage, in welcher Tradition er seine Musik sehe. «In den letzten 30, 40 Jahren ist der Bereich explodiert, was man unter Neuer Musik alles versteht. Eine klare Linie, die zu meiner Musik führt, kann ich nicht angeben, auch wenn etwa Wolfgang Rihm und Dieter Ammann sicher dazugehören.» Letzterer kommt nicht von ungefähr, weil Gaudenz Werner Wigger bei Ammann studiert hat. Und: «Was mich ebenfalls immer beeindruckt und interessiert, ist die Musique spectrale.»
Für einen komponierenden Sänger erstaunlich ist, dass Gaudenz Werner Wigger bisher wenig Vokalwerke geschrieben hat. «Für mich ist Vokalmusik so nahe an dem, was ich als Sänger interpretiere, dass meine Ansprüche an solche Kompositionen nochmals höher sind: Ich würde lieber keine Musik schreiben als solche, mit der ich nicht zufrieden bin.» Hinzu komme, dass Instrumente wie etwa Geigen an sich mehr oder weniger gleich seien und vor allem durch die Interpretation einen speziellen Ausdruck bekämen, jede menschliche Stimme aber an sich fast komplett anders sei. «Das macht es sehr schwierig, weil man beim Schreiben von Musik in der Regel nicht auf eine bestimmte Stimme eingehen kann, denn sonst könnte das niemand anders entsprechend singen.»
Familien von Instrumenten
Das diesjährige Festivalthema der Sommerfestspiele Murten heisst «Familie» und soll auch als Ansatzpunkt für die Auftragskompositionen dienen. Entsprechend interessiert, wie Gaudenz Werner Wigger dies miteinbezogen hat bei der Entwicklung seines Werks. «Meine Musik ist nicht abstrakt, aber ich denke sehr, wenn nicht fast komplett abstrakt über die Musik, die ich schreibe. Und das hat es erschwert, sie mit solch einem Thema zu verknüpfen.» So kam er auf die Idee, den Begriff der Instrumentenfamilie als Ansatz zu verwenden. «Für mich ist es immer zentral und prägend für ein Stück, für welche Besetzung es geschrieben wird, deshalb habe ich bei der Instrumentierung an das Familienthema angeknüpft. Ich habe eine zahlenmässig ausgewogene Besetzung von drei Holzbläsern, drei Blechbläsern und drei Streichern gewählt, hinzu kommen zwei Perkussionisten; das sind für mich wie vier Familien, die wiederum zusammengehören.»
Für ein neues Werk aber braucht es zu Beginn mehr: eine Stimmung etwa oder eine Melodie, eine Art Nukleus. «Genau das ist, wonach ich zuerst suche: einen Ausgangspunkt, aus dem heraus dann das Stück entstehen kann. Oft notiere ich mir zuerst auf Papier verschiedene Aspekte, eben etwa die zur Verfügung stehenden Instrumente und die ihnen zugrunde liegenden Eigenschaften: Was sind ihre tiefsten Töne, was sind die offenen Saiten bei den Streichern, welche Obertonreihen ergeben sich? All das schreibe ich einfach mal auf, und irgendetwas führt dann vielleicht zu einer Idee.»
So entsteht eine Auslegeordnung von Möglichkeiten, und Gaudenz Werner Wigger beginnt zu komponieren, wechselt dabei oft an den Computer oder ans E-Piano. «Diese Phase ist sehr intuitiv, ich suche und probiere vieles aus. Irgendwann habe ich bis jetzt immer das Glück gehabt, dabei etwas zu finden, von dem aus ich auf alle Seiten hin etwas entwickeln kann, das mir gefällt.» So war es auch beim neuen Stück «Schwall». «Bei diesem sind zuerst etwa 30 Sekunden Musik entstanden. Doch ich habe nur den Schluss davon herausgepickt, der zum Kern des Stücks wurde; der Rest dieser 30 Sekunden Musik kommt im Stück nirgends mehr vor.»
Beim Stück «Schwall» fallen eine Quintole und ein Gong auf, die wiederholt auftauchen. «Tatsächlich war genau diese Quintole der Ausgangspunkt der Komposition, auf den ich über Umwege gekommen bin, wie, weiss ich auch nicht mehr, aber daraus ist das ganze Stück entstanden. Den Gong hingegen habe ich erst nachträglich hinzugefügt, aber er ist durchaus formbildend, da ich ihn an zentralen Punkten eingesetzt habe.» Als die Quintole als Ausgangspunkt feststand, habe er einfach losgeschrieben. «Wenn ich warte, bis die Inspiration kommt, dann verpasse ich das Leben –oder zumindest den Abgabetermin; ich muss gewissermassen das weisse Blatt Papier bekämpfen.»
Klarheit verschaffen
Beim Drauf-los-schreiben besteht immer auch die Gefahr des Übermasses. Gaudenz Werner Wigger: «Gerade die Quintole war in meinem ersten Entwurf viel komplexer. Deshalb habe ich gewisse Aspekte von ihr vereinfacht, um andere Elemente der Komposition präsenter zu machen. Zudem: Wenn ich viel schreibe und es mir am nächsten oder übernächsten Tag nochmals anschaue, muss ich oft sagen: Es läuft zu viel. Ich überarbeite die Musik dann mit dem Ziel, sie komplex zu belassen, aber weniger kompliziert zu machen. So stelle ich beispielsweise in einem Teil des Stücks die Rhythmik in den Vordergrund, in einem anderen Teil die schnellen Läufe.»
Dazu gehört auch, eine Art Linie für das Stück herauszusuchen. «Ich beabsichtige das weniger in einer klanglichen, sondern in einer formalen Art. Es gibt durchaus auch Brüche, darf Überraschungen geben. Wichtig aber ist, dass sich etwas durchzieht, dass man immer sagen kann, das ist irgendwie logisch, obwohl man als Komponist ja an jedem Punkt immer in alle Richtungen gehen könnte. Man könnte das auch Stringenz nennen.» Gehört dazu auch, dass die Rhythmen an sich oft recht anspruchsvoll sind, zumal es auch viele Taktwechsel gibt? «Es ist nicht ein überragendes rhythmisches Konzept, sondern aus sich heraus entstanden. Das ist grundsätzlich, meine Musik entsteht aus sich heraus.»

Der renommierte Schweizer Komponist David Philip Hefti stand Gaudenz Werner Wigger – wie auch dem anderen geförderten Komponisten, Andrzej Ojczenasz – bei dieser Auftragskomposition als Mentor zur Seite. Das erste Mal trafen sich die drei Komponisten Anfang Januar, noch bevor bekannt war, was die Besetzung des Ensembles und was das Thema ist. Danach haben sie sich jeweils ein- oder zweimal im Monat getroffen, immer zu dritt, auch mal per Zoom. «Andrzej und ich haben jeweils gezeigt, wie weit wir sind, meist über das Programm Dorico. Das waren am Anfang Skizzen, die sich dann kontinuierlich immer mehr zu einem Stück entwickelten. Dazu hatten wir einen freien Austausch über die entstehenden Werke.»
Herausforderung Interpretation
Die Begleitung des Kompositionsprozesses durch David Philip Hefti sei gar nicht so konkret gewesen, erinnert sich Gaudenz Werner Wigger. Es sei einfach immer wieder gut gewesen, wenn jemand anders – zudem jemand mit riesiger Erfahrung – sich seine Arbeit angeschaut habe. «Es kamen dann Ideen von Philip, aber auch von Andrzej, die mir selbst nicht gekommen wären, weil ich zu fest in meinen Entwürfen steckte; ich konnte sie dann teilweise übernehmen. Das Tolle an diesem Austausch war, dass Andrzej und ich sehr frei waren, dass Philip uns überhaupt nichts vorgeschrieben hat.» Sie hätten mehr Anregungen denn konkrete Ideen erhalten, konkret seien lediglich Tipps etwa zur Instrumentierung gewesen.
Die Umsetzung einer vor allem rhythmisch anspruchsvollen Komposition in ein gespieltes, interpretiertes Stück ist eine grosse Herausforderung. Umso mehr fallen in der Partitur spezielle Anweisungen gegen den Schluss des Stücks auf, etwa «repeat with varying speeds and durations», also spielerische Freiheiten für die Musiker. «Diese Passage ist wie eine kurze Pause von dieser stark rhythmisierten Musik, ein schöner Kontrast, vielleicht ein wenig Effekthascherei – muss ja nicht schlimm sein. Der Rest des Stückes ist dann wieder sehr rhythmisch, sehr tight, da gibt es wie zuvor wenig rhythmischen Spielraum.»
«SUISA en scène» an den Sommerfestspielen Murten Classics 2025
Es ist eine altbekannte Tatsache, dass junge Komponistinnen und Komponisten kaum wahrgenommen werden. Es fehlt ihnen an Aufträgen für Kompositionen und eine Plattform, über die sie ihr Schaffen einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen können. Die SUISA und die Sommerfestspiele Murten Classics haben deshalb das gemeinsame Projekt «SUISA en scène» lanciert, mit dem Talente entdeckt, bei der Weiterbildung unterstützt und mit anderen Musikern vernetzt werden sollen.
Christoph-Mathias Mueller, der künstlerische Leiter von Murten Classics, und David Philip Hefti, der Komponistenmentor, haben dafür zwei junge Komponisten ausgewählt, die in der ersten Jahreshälfte 2025 je ein maximal achtminütiges Auftragswerk schaffen konnten. Die bei diesem Coaching-Prozess entstandenen Werke von Gaudenz Werner Wigger («Schwall») und Andrzej Ojczenasz («Vicious Circle») werden nun im Rahmen der diesjährigen Sommerfestspiele Murten Classics zur Uraufführung kommen. Tonflug, das Studierenden-Ensemble der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), und Thaïs Louvert (Violine) werden diese Stücke neben Kompositionen von David Philip Hefti («Éclairs» und «Wunderhorn-Musik») und Rudolf Kelterborn («Erinnerungen an Mlle Jeunehomme») interpretieren. Dirigiert werden diese Werke von Mario Garcia Ramos, Jeanne Cousin und Leonhard Kreutzmann, die das Programm bereits im Rahmen eines Interpretations-Meisterkurses an der ZHdK unter Anleitung von Christoph-Mathias Mueller erarbeitet haben.
24. August 2025, Deutsche Kirche Murten, 17:00 Uhr. David Philip Hefti und Christoph-Mathias Mueller werden kommentierend durch das Konzert führen.
Am 23. August 2025 findet um 14:00 Uhr eine öffentliche Werkstattprobe statt; Eintritt frei.
Tickets und weitere Infos: www.murtenclassics.ch