Bei der Musik von Cégiu kommt die Textur der Oberfläche nur kurz zum Einsatz – einzig in den ersten paar Sekunden eines Songs, wenn er erstmals mit den Ohren der Hörerin, des Hörers Kontakt aufnimmt. Anschliessend verwandelt sich die Musik in einen Strudel, in ein komplex verwobenes mäanderndes Labyrinth, das sich den Weg tief ins Unterbewusstsein der Hörenden schlängelt und mit den Emotionen jongliert. Über drei Alben hat Cégiu ihre Kunst mittlerweile verfeinert: Auf «Skinny Souls» (2016), «Restless Roots» (2019) und «Glowing Goodbyes» (2021) bringt sie durch den Einsatz mehrerer Sprachen nicht nur den Turm zu Babylon zum Einsturz, sondern baut unentwegt an neuen, noch raffinierteren akustischen Geflechten, die ungewohnte Reize auf der emotionalen Tastatur auslösen können. So schafft die 39-jährige Zentralschweizerin mit Wurzeln im Friaul und der Westschweiz das Kunststück, die Katharsis, die ihrer Musik innewohnt, auch auf andere zu übertragen.
Auf «Restless Roots» heisst einer ihrer Songs «Il Silenzio – n’existe pas» und in ihm verbirgt sich so ziemlich alles, was eine Cégiu-Komposition ausmacht: Die Stille, die nicht existiert, hat sie am eigenen Leib erfahren, als die Familie von einem an Verkehrslärm kaum zu überbietenden Ort in einen Wohnblock zog, der an einen Schlosspark grenzte. «Plötzlich», sagt Cégiu, «hörte ich meinen eigenen Körper, das Rauschen des Blutes in meinen Ohren.» Die Verzweiflung, die auf diese Erkenntnis folgt, wird stimmlich mit Flüstern und Schreien vertont und verbal in vier Sprachen unterstützt. «Aufgewachsen in einem mehrsprachigen Haushalt, habe ich früh schon gemerkt, dass man gewisse Zustände oder Gefühle in einer bestimmten Sprache pointierter ausdrücken kann als in einer anderen.» «Dream on mon coeur» flüstert sie über einem verfremdeten, ewig kreisenden Cello, das im Laufe des Stücks sämtliche Aggregatzustände durchwandert.
Die Wirkung von Musik auf unser Hirn, unseren Körper – damit beschäftigt sich Cégiu auch in ihrem aktuellen Projekt, für das sie von der FONDATION SUISA mit einem «Get Going!»-Beitrag unterstützt wird. «Coiled Continuum» nennt sie es und der Name ist Programm. Innerhalb dieses geschlossenen, sich immer neu drehenden Kontinuums will Cégiu mit anderen Kulturschaffenden zusammenarbeiten, indem sie bereits Erschaffenes zur Weiterverarbeitung an andere übergibt, die in der Folge wiederum das Resultat erneut an Cégiu zurückspielen.
«Das Bild von einer sich kontinuierlich drehenden Spirale fasziniert mich», sagt sie. «Ich möchte dieses Vorgehen auf allen Ebenen des Projektes einbauen, sei dies bei meinen Arbeitsabläufen, bei den Kollaborationen, aber auch auf der Ebene der Rezeption. Ein ewiges Hin und Her, auch als Anlehnung daran, wie unser Leben eigentlich funktioniert.» Mit der Musikerin und Produzentin Anna Murphy und der Slampoetin Dominique Macri steht sie bereits im Austausch. Auch mit dem Fotografen Gian Marco Castelberg und für das visuelle Konzept mit Bartholomäus Zientek. Weitere werden folgen. «Da wir heute in einer stark von der Visualität geprägten Welt leben, suche ich auch den interdisziplinären Austausch.»
Inhaltlich bewegt sich das Projekt rund um die Thematik der psychoakustischen Wahrnehmung, mit der sich die Komponistin und Installationskünstlerin Maryanne Amacher (1938-2009) intensiv beschäftigte. «Das Ohr» erklärt Cégiu, «kann nicht nur Geräusche wahrnehmen, sondern auch selbst welche erzeugen, was mittels eines Stimulus provoziert werden kann.» Ziel sei es, dass Ohr und Gehirn beim Hören der Musik stimuliert werden, eigene Klänge zu entwickeln: «Es soll eine neue körperliche Erfahrung entstehen, so dass Musik physisch erlebbar wird.» Dies soll nicht nur beim Streamen der Musik (unter Kopfhörer) möglich sein, sondern auch live: «Mein Traum wäre es, dass ich den Raum und das Verhalten der Menschen so einsetzen kann, dass sie mich auf der Bühne wiederum beeinflussen und so das Publikum Teil der Band wird.» Dabei spielen die Beats wie in allen Arbeiten Cégius eine dominante Rolle. Für «Restless Roots» nutzte sie dafür die Geräusche von Rollkoffern, auf «Glowing Goodbyes» jene von Insekten und nun sollen die Nebengeräusche des Mundes, die bei Sprachnachrichten entstehen, für die komplexe Rhythmik der Musik sorgen.
Auch wenn das Ergebnis aus «Coiled Continuum» ein abgeschlossenes Werk in Form eines Albums werden soll, so will Cégiu während des Arbeitsprozesses die digitalen Möglichkeiten für eine Art «Audio Diary» nutzen. Diese Sichtbarkeit erlaube den Austausch mit anderen und werde so auch Teil des Kontinuums.
Diese Form des Arbeitens, die intensive Beschäftigung mit dem Thema, dies alles erfordert Zeit und Geld. «Diese Form der Unterstützung durch die FONDATION SUISA, bei der zu Beginn kein Resultat und auch kein Zeitpunkt definiert werden muss, lässt einen ungeahnten Entwicklungsspielraum zu, bei dem man sich auch auf Risiken einlassen kann», umschreibt Cégiu die Vorteile von «Get Going!». So sei ohne Druck von aussen eine vertiefte Arbeit erst möglich.