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Andrzej Ojczenasz

«Ich möchte Teil einer grösseren Familie sein»

«Ich möchte Teil einer grösseren Familie sein»
Andrzej Ojczenasz wollte ein Stück schreiben, das mit etwas Positivem endet.
Foto: Mateusz Kucharski
Text von Gastautor Markus Ganz
Das Festival Murten Classics präsentiert am 24. August 2025 neben Kompositionen von David Philip Hefti und Rudolf Kelterborn zwei neue Werke, die zwei junge Komponisten im Rahmen des Projekts «SUISA en scène» geschaffen haben. Das eine Stück heisst «Vicious Circle» und stammt vom 33-jährigen Andrzej Ojczenasz.

Die erste grosse Herausforderung für Andrzej Ojczenasz war der Begriff «Familie», der das diesjährige Festivalthema der Sommerfestspiele Murten ist und auch als Ansatzpunkt für diese Auftragskomposition gedacht ist. «Natürlich hatte ich sofort Assoziationen dazu, die naheliegenden. Aber ich wollte nach etwas Tieferem suchen, das auch mit Spannungen zu tun hat.» Fast zwei Wochen habe er dafür gebraucht. Zuerst wollte er mit seiner Musik einen Bezug zu «Shining» schaffen, Stanley Kubricks Film nach dem Roman von Stephen King, merkte aber bald, dass ihm das nicht behagte. «Mir wurde bewusst, dass ich mit meiner Musik etwas erkunden wollte, das spannend und tiefgründig ist, aber eine weniger deprimierende Botschaft hat. Der Zerfall der Familie, wie er im Film und im Buch dargestellt wird, lässt keine Hoffnung zu. Ich aber wollte ein Stück schreiben, das mit etwas Positivem endet.»

Ein Bild als Inspiration

Andrzej Ojczenasz suchte nun «nach etwas Sinnvollem und nicht so Offensichtlichem, etwas, das zum Nachdenken anregt und auch bewegt». Dazu setzte er das Hilfsmittel der «mental maps» ein, bei der er assoziativ viele Wörter aufschrieb und dann Verbindungen zwischen ihnen herstellte. «Am Ende entstand so eine Art Wolke aus miteinander verbundenen Wörtern. Damit habe ich nach passenden Filmen, Literatur und Gemälden gesucht, wozu Google Images sehr geeignet ist, weil man viele Wörter eingeben kann und die Suchergebnisse sehr interessant sind.» Im Rahmen dieser Suche stiess der gebürtige Pole, der in Zürich studiert, auf das dramatische Ölgemälde «Vicious Circle» («Teufelskreis») von Jacek Malczewski (1854-1929), einem polnischen Maler des Modernismus und Symbolismus.

Dieses Bild wurde zur Inspiration für Andrzej Ojczenasz’ gleichnamige Komposition. «Es strahlt eine enorme Energie aus und hat mich sehr bewegt. Ich dachte: Ja, da ist ein Junge, überfordert und vielleicht sogar deprimiert, gefangen zwischen den Kräften der Vorstellungskraft und der Geschichte. Und wenn man an Familie denkt, dann soll das meine gedankliche Verbindung zu meinem Musikstück sein. Es geht um Kinder im Allgemeinen.»

Man kann sich bei diesem Jungen auf dem Bild auch Andrzej Ojczenasz vorstellen, der vom turbulenten Leben umgeben ist. «In gewisser Weise ja. Ich möchte Teil einer grösseren Familie sein, nämlich einer Gesellschaft, einer Nation, einer Kultur – Teil eines kulturellen Kreises, wie wir beispielsweise die westliche Kultur wahrnehmen, mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Lebensweise. Natürlich gibt es viele Unterschiede, aber es gibt auch Gemeinsamkeiten. Als erwachsener Mensch stellt sich – gerade in diesen anspruchsvollen, herausfordernden Zeiten – auch die Frage, wie man sich zur Gesellschaft stellt: Trägt man etwas bei oder nimmt man nur?»

Verschiedene Ausdruckswelten

Andrzej Ojczenasz beschreibt dieses Gemälde zu Recht als sehr dynamisch, dualistisch und symbolisch. Da fragt sich, ob und wie er Eigenheiten dieses Bildes in Musik umgesetzt hat. «Musik und Malerei sind verschiedene Ausdruckswelten. Und ich glaube, dass die Musik unabhängig sein sollte. Selbst wenn jemand ihren Kontext zu diesem Bild und die Inspiration nicht kennt, sollte sie doch interessant und genussvoll anzuhören sein. Aber natürlich habe ich einige Anspielungen gemacht. Es sind Ideen, die mir in den Sinn kamen, als mir bestimmte Phänomene in dem Bild auffielen. Zunächst einmal wollte ich etwas Ruhiges, aber Kraftvolles schaffen, das unter der Oberfläche viel Spannung enthält. Deshalb beginnt das Stück mit diesem ruhigen Akkord, der immer wieder an Kraft gewinnt, ein Crescendo. Ausserdem steigen die Klavierlinien nach oben. Es gib aber sowohl einen Auf- wie einen Abstieg.»

Es geht also um den Jungen auf der Leiter, um den sich symbolhaft die verschiedenen Kräfte drehen. «Deswegen wollte ich eine kreisförmige Bewegung in der Musik erzeugen. Wie man hören kann, gibt es eine horizontale Bewegung mit Tremoli, aber auch eine gewisse Auf- und Ab-Bewegung. Es gibt auch einen verrückten Tanz in diesem Kreis aus verschiedenen Charakteren, eine metaphysische Vision. Es beginnt mit dieser Party aus der griechischen Mythologie und geht dann über in einen Verfall, arme Menschen, die nach Sibirien geschickt werden. Ich habe auch diese dichte Melodie eingeführt, die sich ebenfalls verwandelt und immer mehr asynchron wird. Und ich habe ein bisschen nachgeholfen, um zu zeigen, dass es in dieses Chaos und diese allgemeine Schwere des Glaubens übergeht. Ich wollte also auch diese Verwandlung schaffen, wie es das Gemälde zeigt, von einer sehr angenehmen Lebensweise zu diesen Erfahrungen, die ziemlich schwer zu verkraften sind, zu diesem Verfall, zu dieser Traurigkeit und diesem Leiden.»

Zeichnungen und Symbole

Bei diesem mächtigen Überbau muss man annehmen, dass der Weg von der Idee zur Musik weit und beschwerlich war. Doch Andrzej Ojczenasz erzählt ruhig und nüchtern vom Prozess des Komponierens, dass das Stück zuerst nur in seinem Kopf war, dass es keine Noten gab. «Ich habe zuerst meine Notizen vorbereitet und überprüft. Dann habe ich einige Akkorde erstellt, die bestimmte Tonleitern repräsentieren, was dabei half, das Tonmaterial zu organisieren. Dann habe ich einen allgemeinen Plan für die Komposition erstellt, in dem ich einige Skizzen für die Form angefertigt habe, wobei ich auch Zeichnungen und Symbole verwendet habe.»

Tatsächlich sei das Stück zuerst eher eine grafische Komposition gewesen, erklärt Andrzej Ojczenasz. «Erst dann habe ich das Klavier benutzt und nach Akkorden gesucht, um diese Form mit einem musikalischen Kontext, einer musikalischen Farbe zu füllen, ihr einen Charakter zu verleihen – der mit der Atmosphäre des Stücks. Und dann hatte ich diese allgemeine Form, den Ausgangspunkt, von dem aus ich den Weg dieses Stücks gehen konnte. Hinzu kamen Fragmente, dann musste ich natürlich Verbindungen herstellen, Pausen einfügen und diese spezifischen mikroformalen Elemente komponieren und kombinieren.»

Hefti, Ojczenasz und Wigger sitzen an einem Tisch in einem Musikzimmer, vor sich Notenblätter auf dem Tisch verteilt.
Andrzej Ojczenasz (Mitte) mit Mentor David Philip Hefti (links) und Gaudenz Werner Wigger bei einem Arbeitstreffen im Februar 2025 in den Räumlichkeiten der Musikschule Leimental in Therwil. (Foto: Manu Leuenberger)

Offen für unterschiedliche Interpretationen

Der renommierte Komponist David Philip Hefti hat Andrzej Ojczenasz beim Kompositionsprozess als Mentor begleitet. «Er war sehr hilfsbereit und hat mich die ganze Zeit über ermutigt. Konkret empfahl er mir etwa, einige Änderungen an der Instrumentierung vorzunehmen, um eine weitere Ebene der Komplexität hinzuzufügen. Er hat auch Aspekte bemerkt, die mir nicht aufgefallen sind. Es ist eben sehr wertvoll, wenn man jemand mit einem weiteren Paar Augen und einem anderen Kopf zur Seite hat, der seine Erfahrungen und seine Sicht- und Denkweise mit einem teilen kann. Aber: Ich war völlig frei, er hat mich in keiner Weise unter Druck gesetzt.»

Nach der Fertigstellung der Partitur konnte die Musik bei den ersten Proben mit dem ZHdK- Ensemble Tonflug erstmals richtig zum Klingen gebracht werden. Wobei sich auch die Frage der Interpretation stellte: Wie viel Freiheit liess Andrzej Ojczenasz den Musikern? «Das Wichtigste ist die Wahrnehmung der Musik und wie alle Elemente zusammenwirken. Wenn also etwas nicht funktioniert, bin ich sehr streng. Aber ich bin auch offen für unterschiedliche Interpretationen. Ich liebe es, wenn die Musiker viel von sich geben. Ich denke, das ist notwendig, um Musik wirklich lebendig zu machen. Ich finde, die Musikerinnen und Musiker haben einen wirklich präzisen Ausdruck gefunden.»

www.andrzejojczenasz.art

«SUISA en scène» an den Sommerfestspielen Murten Classics 2025

Es ist eine altbekannte Tatsache, dass junge Komponistinnen und Komponisten kaum wahrgenommen werden. Es fehlt ihnen an Aufträgen für Kompositionen und eine Plattform, über die sie ihr Schaffen einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen können. Die SUISA und die Sommerfestspiele Murten Classics haben deshalb das gemeinsame Projekt «SUISA en scène» lanciert, mit dem Talente entdeckt, bei der Weiterbildung unterstützt und mit anderen Musikern vernetzt werden sollen.

Christoph-Mathias Mueller, der künstlerische Leiter von Murten Classics, und David Philip Hefti, der Komponistenmentor, haben dafür zwei junge Komponisten ausgewählt, die in der ersten Jahreshälfte 2025 je ein maximal achtminütiges Auftragswerk schaffen konnten. Die bei diesem Coaching-Prozess entstandenen Werke von Gaudenz Werner Wigger («Schwall») und Andrzej Ojczenasz («Vicious Circle») werden nun im Rahmen der diesjährigen Sommerfestspiele Murten Classics zur Uraufführung kommen. Tonflug, das Studierenden-Ensemble der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), und Thaïs Louvert (Violine) werden diese Stücke neben Kompositionen von David Philip Hefti («Éclairs» und «Wunderhorn-Musik») und Rudolf Kelterborn («Erinnerungen an Mlle Jeunehomme») interpretieren. Dirigiert werden diese Werke von Mario Garcia Ramos, Jeanne Cousin und Leonhard Kreutzmann, die das Programm bereits im Rahmen eines Interpretations-Meisterkurses an der ZHdK unter Anleitung von Christoph-Mathias Mueller erarbeitet haben.

24. August 2025, Deutsche Kirche Murten, 17:00 Uhr. David Philip Hefti und Christoph-Mathias Mueller werden kommentierend durch das Konzert führen.

Am 23. August 2025 findet um 14:00 Uhr eine öffentliche Werkstattprobe statt; Eintritt frei.

Tickets und weitere Infos: www.murtenclassics.ch

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