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«Eine Melodie wie eine Erinnerung von weit weg»
Xavier Dayer im Interview über sein Werk «Cantus VII» Ende Januar 2020.
Foto: Manu Leuenberger
Text von Gastautor Markus Ganz; Video von Mike Korner
Xavier Dayer liess sich für das Projekt «Schweizer Beethoven-Reflexionen» nicht nur von der Melodie des von Beethoven verwendeten Schweizer Lieds inspirieren. Er bezog auch die Situation mit ein, in der sich der damals noch junge Komponist befand.

Xavier Dayer ist überzeugt davon, dass die zentrale Bedeutung von Ludwig van Beethoven weit über den Kreis der Komponistinnen und Komponisten wie auch der Musikerinnen und Musiker hinausgeht. «Ich würde sogar sagen, dass er am Anfang des Bildes steht, das man in der breiten Öffentlichkeit von der Romantik und der klischierten Figur des Komponisten hat.» Bei aller Bewunderung für Beethoven stuft er dessen Variationen über ein Schweizer Volkslied nüchtern ein. «Ich denke nicht, dass es sein eindrücklichstes Stück ist», erklärt der in Genf geborene und in Bern wohnende Komponist im Gespräch von Ende Januar 2020 knapp.

Die Variationen liessen Xavier Dayer jedoch über den Zeitpunkt der Entstehung nachdenken: Im Jahr 1792 war Beethoven 22 Jahre alt und stand kurz davor, nach Wien zu ziehen. Entsprechend versteht Xavier Dayer die Variationen als eine Art Übung zu einer Zeit, als Beethoven im Enthusiasmus seiner eigenen Musik gestanden sei. Dies müsse man vor einem breiteren Hintergrund verstehen. «Man glaubte damals an die Modernität, den Fortschritt; auch die Komponisten. Und diese Vorliebe für die Modernität wurde mit einer für die Heimat assoziiert – hier traf sich die Vorliebe für die Romantik mit der für die Nation, womit ich immer ein Problem hatte.»

Xavier Dayer befasste sich bei der Entwicklung seiner Komposition zunächst mit der Melodie dieses Lieds, «noch mehr als mit den Variationen von Beethoven und dessen Harmonisierung». Diese Melodie sei derart einfach, dass sie etwas habe, dem er sich von seinem eigenen Schaffen annähern könne. Er habe sie wie einen Cantus firmus verwendet, eine Melodie, die von aussen gegeben ist und die er in seiner eigenen Musik eher verstecke. «Sie ist wie eine Erinnerung von weit weg, als ob man sich diesen verlorenen Enthusiasmus wieder ins Gedächtnis rufen würde, der verdeckt ist in meiner Musik, die unruhig und beunruhigend sein möchte.»

Konkret hat Xavier Dayer die Melodie des Liedanfangs verwendet. «Wir haben vom Enthusiasmus gesprochen, und diesbezüglich liegt etwas rein Positives in dieser Melodie, die auch harmonisch sehr klar ist, ohne jeglichen Zweifel darin. (…) Sie wird bei meiner Komposition aber in eine Art von Nebel getaucht sein.» Für die Instrumentierung hat Xavier Dayer ein Quartett für Flöte, Klarinette, Geige und Cello gewählt, «eine Besetzung, für die es noch nicht allzu viele Referenzen gibt». Dies habe ihn interessiert, weil dies weniger Druck der Tradition bedeute und dadurch mehr Freiheiten ermögliche. Man mag sich wundern, dass trotz des Beethoven-Bezugs das Piano nicht zum Zug kommt. Doch Xavier Dayer betont, dass er nicht als Pianist, sondern als Gitarrist ausgebildet wurde und deshalb eine Art Komplex in Bezug auf Komponisten-Pianisten empfindet. Gleichwohl benutzt er das Klavier häufig als Werkzeug für seine Arbeit, vor allem um die harmonischen Progressionen kontrollieren zu können.

Wie die Komposition dereinst tönen wird, bleibt in diesem Entwicklungsstadium offen. Aber auch wenn das Stück fertig geschrieben sei, bleibe immer noch enorm viel Raum für die Interpreten. «In der Abfolge der kreativen Schritte bin ich derjenige, der Zeichen vorschlägt, die andere dann mit ihrer Sensibilität und Erfahrung interpretieren werden. Ich verehre die Kunst der Interpretation über alles.» Xavier Dayer betont, dass er es besonders als Zuhörer liebe, zu entdecken, wie sich die Interpreten eine Komposition aneignen. «In diesem Sinn ist auch dieser Teil der Kreation ein essentieller Moment, weil sie erstmals in einem Raum erscheint.» Hinzu kommt die Bedeutung des Publikums. Eine Komposition sei wie ein Liebesbrief, der an sich nicht viel bedeute – vor allem, wenn ihn niemand lese, und insbesondere, wenn ihn niemand beantworte (lacht).

Die Rolle des Komponisten ist zudem in Frage gestellt, spätestens seit Beethovens nur skizzenhaft komponierte 10. Sinfonie zum Jubiläumsjahr mit einem speziell trainierten Algorithmus vollendet wurde. Xavier Dayer betrachtet dies nicht etwa als Gefahr, sondern als «äusserst stimulierende Herausforderung». Er sehe, dass sich auch seine Studierenden mit der Frage befassen, was die Kreation eines Individuums heute noch bedeute. «Ich bewundere Künstler, die den Akt der Kreation hinterfragen. (…) Vielleicht sind wir am Ende eines Zyklus’, in der das kreierende Individuum als eine Art von Genie gesehen und ein Kult darum gemacht wurde.» Dies hat nach seiner Meinung auch komplexe Folgen gezeitigt. «Jede Note von Beethoven, jeder Satz von Goethe vermittelte uns den Eindruck, im Vergleich ganz klein zu sein.» Er denke, dass man nicht einfach weitermachen könne mit dieser Einordnung des Künstlers, der «alles» zu sagen habe. «Heute wird der Künstler wohl anders betrachtet: als jemand, der weder darüber noch darunter, sondern einfach im Kontinuum der sozialen Bindungen steht.»

Xavier Dayer wurde 1972 in Genf geboren. Dort studierte er Komposition mit Eric Gaudibert und in Paris mit Tristan Murail und Brian Ferneyhough (IRCAM – Forschungsinstitut für Akustik/Musik). Er ist Professor für Komposition an der Hochschule der Künste Bern und seit 2009 Beauftragter vom «Master of arts in Composition/Theory». Seit 2011 ist er Präsident der SUISA. Der Kanton Bern zeichnete ihn mit dem Musikpreis 2020 aus. www.xavierdayer.com

Schweizer Beethoven-Reflexionen: Ein Projekt von Murten Classics und der SUISA zum 250. Geburtstag von Ludwig van BeethovenLudwig van Beethoven hatte nur wenig mit der Schweiz zu tun. Aber er hat «Sechs Variationen über ein Schweizerlied» geschrieben, bei dem es sich um das Volkslied «Es hätt e Bur es Töchterli» handelt. Dies ist der Ausgangspunkt für Kompositionsaufträge, die die Sommerfestspiele Murten Classics zusammen mit der SUISA an acht Schweizer Komponistinnen und Komponisten verschiedener Generationen, Ästhetik und Herkunft vergeben haben.

Oscar Bianchi, Xavier Dayer, Fortunat Frölich, Aglaja Graf, Christian Henking, Alfred Schweizer, Marina Sobyanina und Katharina Weber konnten sich auf die Variationen, auf das von Beethoven verwendete Volkslied selbst oder auf Beethoven im Allgemeinen beziehen. Die Kompositionen wurden für das Ensemble Paul Klee geschrieben, das folgende Maximalbesetzung erlaubt: Flöte (auch Piccolo, G- oder Bassflöte), Klarinette (in B oder A), Violine, Viola, Cello, Kontrabass und Klavier.

Initiant dieses 2019 begonnenen Projekts war Kaspar Zehnder, der während 22 Jahren künstlerischer Leiter von Murten Classics gewesen war. Wegen der Corona-Krise und den von den Behörden verordneten Massnahmen war die Durchführung sowohl der 32. Ausgabe im August 2020 als auch des vorgesehenen Ersatzfestivals in den anschliessenden Wintermonaten nicht möglich. Der «SUISA-Tag» mit den acht Kompositionen dieses Projekts wurde – ohne Publikum – am 28. Januar 2021 im KiB Murten dennoch aufgeführt und aufgezeichnet. Die Aufnahmen waren bei Radio SRF 2 Kultur in der Sendung «Neue Musik im Konzert» zu hören und sind auf der Plattform Neo.mx3 erschienen. Im SUISAblog und auf den Social Media-Kanälen der SUISA ist das Projekt mit multimedialen Beiträge online dokumentiert.

www.murtenclassics.ch

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