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«Diese Krise weist auf eine kranke Gesellschaft hin»

«Diese Krise weist auf eine kranke Gesellschaft hin»
Text von Nina Müller; Video von Cyril Bondi, bearbeitet von Nina Müller
Im Rahmen des Projekts «Music for Tomorrow» stellen wir dieses Mal den Schweizer Jazz- und Improvisationsmusiker Cyril Bondi und sein Stück «We Need To Change» vor. Im schriftlichen Interview erzählt Cyril, warum aus seiner Sicht die Politik und nicht der Virus für die jetzige Krise verantwortlich ist.

Der 40-jährige Cyril Bondi bezeichnet sich selbst als Experimentator, der es liebt, mit anderen zusammen zu arbeiten. Der gebürtige Genfer bewegt sich musikalisch im Bereich von Jazz und Free Jazz. Als Rückgrat seiner Musik bezeichnet er die Improvisation. «Sie hat es mir ermöglicht, in unterschiedlichen Kontexten zu spielen und mich in einem Jazz-Trio (Plaistow) ebenso wohl zu fühlen wie im experimental/traditional Genre (La Tène), in einem Pop-Rock-Duo (Cyril Cyril) oder bei einer punktuellen Zusammenarbeit für verschiedene Projekte», sagt er im schriftlichen Interview mit der SUISA. Mit seiner Musik überschreitet Cyril regelmässig musikalische Grenzen, die sich die Gesellschaft im Laufe der Jahre gesetzt hat. «Ich versuchte schon immer, Neues zu entwickeln, neue Konzepte, mein Instrument anders zu spielen, es zu dekonstruieren, neu zu erfinden und neue Klänge und Texturen zu suchen», sagt Cyril über seine musikalische Entwicklung.

Exklusiv für «Music for Tomorrow» hat Bondi das Stück «We Need To Change» komponiert. Vor dem Lockdown war Bondi damit beschäftigt, mehrere Stücke für sein kommendes Soloalbum zu schreiben. Wegen der Coronavirus-Pandemie musste er alle Projekte abbrechen. Als er die Einladung zu «Music for Tomorrow» erhielt, wurde ihm bewusst, wie gross sein Bedürfnis nach einer Veränderung ist. Die Erarbeitung des Stückes empfand Cyril als sehr intensiv. «Intensiv, weil ich darin die Chance sah, einem in der heutigen Situation verbreiteten Gefühl Ausdruck zu verleihen, dieser merkwürdigen Mischung zwischen der klaren Feststellung, dass unsere Gesellschaft zusammenbricht und der Verleugnung dieser Situation», erklärt Bondi. «Ich spüre diese Spannung zutiefst, und der kreative Raum, auf den ich mich einliess, hat mir erlaubt, dies auf meine eigene Art und Weise auszudrücken». Ausserdem sei es für ihn ungewohnt, alleine zu arbeiten, da er meist mit Bands oder Orchestren zusammenarbeitet.

Cyril Bondi, wie sieht dein Arbeitsalltag als Komponist während der Corona-Pandemie aus?
Cyril Bondi: Ich organisiere meine Arbeitstage rund um das Familienleben. Ich habe drei Kinder zu Hause, muss mich also immer wieder um sie kümmern, ihnen bei den Hausaufgaben helfen, sie beschäftigen. Damit ich mit meiner Arbeit vorankomme, stehe ich manchmal früh auf oder befasse mich am Abend mit meinen verschiedenen Projekten. Seien wir ehrlich: Diese Pandemie hat die Kulturkreise mit voller Wucht getroffen, und besonders auch die Musikerinnen und Musiker, deren langjährige prekäre Lage nun deutlich zu Tage tritt. Ich verbringe also sehr viel Zeit damit, Konzertabsagen und -verschiebungen zu organisieren und mich über die verschiedenen Unterstützungsbeiträge zu informieren. Ausserdem bin ich Mitglied der Genfer Föderation der Musikschaffenden, die die Berufsmusiker vom Hip-Hop bis zur zeitgenössischen Musik vereint und in der wir für dieses pandemiegebeutelte Umfeld gemeinsame Forderungen ausarbeiten. Es bleibt mir also wenig Zeit für die künstlerische Tätigkeit: Irgendwann musste ich aber zu meiner Kompositionsarbeit zurückkehren; ich schrieb neue Stücke, ohne zu wissen, für wen eigentlich und mit welchem Ziel vor Augen, ausser dass ich mich wieder kreativ betätigte. Zudem nutzte ich die Gelegenheit, die Aufnahmen für das Album Cyril Cyril (Pop, Rock) und für mein Soloalbum (experimental) voranzutreiben.

Was bedeutet diese Krise für dich persönlich?
Diese Krise weist auf eine kranke Gesellschaft hin. Wir befinden uns nämlich in dieser Situation nicht weil sich ein Virus ausgebreitet hat, sondern weil politische Entscheidungen uns in diese Lage geritten haben. Wir sparen bei den öffentlichen Diensten und Spitälern, wir holzen ab, beuten aus, plündern und verbrauchen. Ich versuche nun zu lesen, mich zu informieren, mit anderen zu diskutieren, Musik zu hören. Es ist eine düstere Zeit, die mir vor Augen führt, wie stark wir die Kultur, die Künste, die Künstlerinnen und Künstler brauchen, um uns zu inspirieren, zum Träumen zu bringen, zur Flucht zu bewegen und zum Nachdenken anzuregen. Noch nie brauchten wir sie so sehr.

Wie kann dich das Publikum im Moment unterstützen?
Die Menschen müssen merken, in welcher Notlage sich die Kulturschaffenden befinden, und sie dürfen hinter ihren Computern und Smartphones nicht denken, dass sie damit irgendwie helfen. Sie müssen CDs kaufen, ihre Lieblingskünstler unterstützen, die Musik jener hören, die in ihrem Umfeld leben, und vor allem dürfen sie die Konzertsäle, Theater und Festivals nicht fallenlassen, wenn diese wieder öffnen dürfen. Denn das ist eine meiner Befürchtungen für die Zukunft. Wenn die Leute dann immer noch Angst haben, sich zu treffen, zu berühren, zu umarmen oder zusammen zu tanzen: Wie werden wir dann wieder schöne Momente der Musik teilen können?

Hilft es dir, wenn Leute auf Spotify und Co. mehr deine Musik streamen?
Vermutlich sagen alle dasselbe. Spotify, Youtube, Facebook sind Unternehmen, die so viel Geld wie möglich machen wollen, indem sie die Ressourcen anderer auswerten. Und ich gehöre nun mal zu diesen «anderen». Ich werde nie etwas von dem erhalten, was konsumiert wird.

Was könnte deiner Meinung nach, die momentane Situation an Positives mit sich bringen?
Meine Hoffnung liegt in der kollektiven Erfahrung, die wir gerade durchleben. Sind wir intelligent genug, um zu merken, dass eine Welt mit weniger Flug- und Autoverkehr, mit mehr Natur, einem verlangsamten Rhythmus, mehr Zeit für die Familie und mehr Solidarität eine Welt ist, in der wieder Hoffnung aufkommen kann? Unsere kapitalistische Gesellschaft führt uns in den Untergang, packen wir doch die Gelegenheit, uns eine neue Welt vorzustellen, sie zu erfinden und zu schaffen. Das tönt naiv, doch ich habe das Gefühl, dass heute jeder und jede in der Lage ist, dies zu verstehen!

Was möchtest du deinen Fans mit auf den Weg geben?
Hört Musik, singt, tanzt, geht aus!

www.cyrilbondi.net

«Music for Tomorrow»
Die Covid19-Krise trifft die Mitglieder der SUISA besonders hart. Die Haupteinnahmequelle vieler Komponistinnen, Komponisten, Verlegerinnen und Verleger fällt komplett weg: Auftritte jeglicher Art sind bis auf Weiteres vom Bund verboten worden. In den nächsten Wochen porträtieren wir auf dem SUISAblog einige unserer Mitglieder. Sie erzählen uns, was sie während der Covid19-Krise bewegt, was ihre Herausforderungen sind und wie ihr Arbeitsalltag derzeit aussieht. Die Musikerinnen und Musiker haben zudem für den SUISAblog zu Hause oder in ihrem Studio eine Eigenkomposition performt und gefilmt. Die SUISA bezahlt den Musikerinnen und Musikern für diese Aktion eine Gage.

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