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Europäisches Jugendchor Festival

«Das Publikum soll in einer Klangwolke baden»

«Das Publikum soll in einer Klangwolke baden»
Die Leiterin des Europäischen Jugendchor Festivals, Kathrin Renggli, und der Basler Komponist Balz Aliesch.
Foto: Giorgio Tebaldi
Interview von Giorgio Tebaldi
Vom 17. bis 21. Mai 2023 findet in Basel das Europäische Jugendchor Festival statt. Am Eröffnungstag führen rund 1000 Jugendliche aus 13 Ländern live den Soundtrack zum Kurzfilm «Circuit» der Regisseurin Delia Hess auf. Im Interview haben uns der Komponist Balz Aliesch und die Festivalleiterin Kathrin Renggli über den Entstehungsprozess sowie über die Herausforderungen bei der Komposition und der Aufführung erzählt.

Der Animationsfilm «Circuit» von Delia Hess stammt aus dem Jahre 2018. Wie ist die Idee zu einer Neuvertonung entstanden?

Kathrin Renggli: Am Anfang stand die Idee, dass wir das Festival in der St. Jakobshalle mit allen Sängerinnen und Sängern eröffnen. Etwas aufzuführen, das alle gemeinsam machen können. Wir entschieden uns, dies im Rahmen eines Films zu machen. Hier gab es einige Bedingungen, die eingehalten werden mussten: Der Film musste fünf bis maximal zehn Minuten lang sein und es durften darin keine gesprochenen Wörter vorkommen. Zudem musste der Film eine generelle Aussage haben, an der sich niemand stört und hinter dem die vielen verschiedenen Chöre aus diversen Ländern stehen können. Auch musste er für jedes Alter geeignet sein, was alles andere als einfach war: Die 10-Jährigen sollten genauso damit etwas anfangen können wie die 25-Jährigen. Und letztlich musste er in Farbe und emotional sein und somit dazu animieren, sich kompositorisch auszutoben und verschiedene Stimmungen zu schaffen.

Die Ausgangslage bei dieser Aufführung ist ja sehr speziell. Zum einen wird das Werk live aufgeführt und zum anderen wird das Stück von 1000 Jugendlichen aus 13 Ländern, die sich in Basel grösstenteils zum ersten Mal treffen, vorgetragen. Hat dies beim Komponieren eine Rolle gespielt?

Balz Aliesch: Ja, auf jeden Fall. Wir wussten von Anfang an, dass es nicht zu schwierig sein darf. Es mussten einfache, wiederkehrende Motive sein. Deshalb haben wir 25 musikalische Ideen, wie wir sie genannt haben und die gewissermassen Bausteine sind, geschaffen, die immer wieder vorkommen. Es durfte also kein fortschreitendes Stück sein, dass sich ständig verändert, sondern es kommen immer wieder die gleichen Elemente vor. Dies hat sich auch durch den Film ergeben: Dort kommen gewisse Elemente auch immer wieder vor, wie in einem Kreislauf. Einige dieser Ideen sind musikalisch mit vierstimmiger Besetzung. Andere wiederum sind Geräusche, zum Beispiel eine Krähe oder das Geräusch, wenn ein Fisch ins Wasser springt. Zum Teil sind es ganz kurze Ideen, und zum Teil sind sie auch 20 Takte lang.
Kathrin Renggli: Gerade hier gab es einige Diskussionen zwischen uns, und wir mussten uns jeweils finden. Balz hat natürlich immer musikalisch gedacht und gewisse Passagen zu komplex gestaltet. Ich rief ihn dann jeweils an und sagte ihm, dass er es einfacher machen muss. Während ich immer die Umsetzung und die Sicht der Chorleiterinnen und Chorleiter vor Augen hatte, lag bei Balz der Fokus auf der Musik.
Balz Aliesch: Ich habe selber sehr viel in Chören gesungen habe, beispielsweise in der Knabenkantorei Basel, und singe auch jetzt noch in einem Männerchor und A-Cappella. Ich habe also mit der Stimme sehr viel am Hut. Allerdings habe ich noch nie für eine dermassen grosse Besetzung geschrieben. Kathrin hat eine grosse Erfahrung mit Chören und lieferte wichtige Inputs, zum Beispiel welche Aufteilung sinnvoll ist oder was zu welcher Zielgruppe passt. Ich war zwar der Komponist, aber Kathrin war als «musical advisor» immer auch Teil des Autorenteams und bei der Entstehung der Komposition sehr nahe dabei.
Kathrin Renggli: Ich hätte dieses Projekt nie mit jemandem umgesetzt, der keine Erfahrung mit Chören hat. Viele Filmmusikkomponisten sind ja instrumental unterwegs. Dass Balz beides kann, war für mich ein Glücksfall. Balz hat zur Vorbereitung auch gewisse Geräusche aufgenommen, weil man diese nicht in einer Notation aufschreiben kann.
Balz Aliesch: Genau. Ich habe jeweils in den Anweisungen versucht, diese Geräusche als Text zu umschreiben. Mir wurde dann bewusst, dass ich ein Klangfile mitschicken muss, damit es für die Chorleitenden und die Chöre klar ist, was gemeint ist. Beispielsweise wie die Fahrradkette im Film klingt. Ich habe dann die Geräusche in einem Programm synchron zum Film mit meiner Stimme aufgenommen und den Chorleiterinnen und Chorleitern geschickt. Ohnehin habe ich zuerst alle Stimmen aufgenommen und gesungen, und dann aufgrund der Aufnahmen die Partitur geschrieben.
Wir haben auch bewusst keine Wörter verwendet, nur schon deshalb, weil die Chöre aus 13 Ländern kommen. Deshalb haben wir mit Klängen gearbeitet. «Circuit», der Titel des Films, ist das einzige Wort, das vorkommt. Ansonsten ist die Komposition lautmalerisch und kommt nur mit Geräuschen aus.
Kathrin Renggli: Filmmusik ist ja in der Regel immer instrumental. Dass man diese ausschliesslich mit Chören umsetzt, ist etwas, was ich bisher noch nirgends angetroffen habe.

Eine Komposition für 1000 Interpreten/innen

Was war bei der Komposition dieses Stücks anders im Vergleich zu Werbe- oder Filmmusik, die Du, Balz, sonst schreibst?

Balz Aliesch: Hier war es insofern anders als bei sonstigen Filmmusikaufträgen, dass die Musik und nicht der Film im Fokus steht. Aber in den Grundzügen bin ich bei diesem Werk so vorgegangen, wie ich es immer mache. Zuerst musste ich ein Tempo für den gesamten Film finden. Das war hier etwas einfacher, weil der Film nur acht Minuten dauert. Ich habe die Höhepunkte des Films bestimmt und darauf basierend eine Metrik erstellt. Es gibt zum Beispiel einen Moment im Film, in welchem die Fahrradfahrer stürzen und zusammenprallen. Dies war ein solcher Höhepunkt. Ich wusste, dort möchte ich einen besonderen Attack, einen Schlag oder einen ähnlichen Höhepunkt haben. Aufgrund dessen habe ich eine Art Raster erstellt, was ich auch in anderen Projekten gerne mache – auch hier, damit ich eine Vorgabe habe, die ich dann mit Tonmaterial füllen kann. Danach beginne ich damit, musikalische Ideen zu finden, die mir gefallen und die in diesem Fall auch für die Chöre toll sein könnten, sie zu singen. Einfach und eingängig. So habe ich dann zwei musikalische Hauptthemen gefunden, die dann im Stück mehrmals wiederkehren.

Das Werk wird am 17. Mai von rund 1000 Chorsängerinnen und -sängern live aufgeführt. Was sind die besonderen Herausforderungen bei einer solchen Vorführung?

Kathrin Renggli: Eigentlich war die Aufführung bereits für 2020 geplant, aber dann mussten wir den Anlass absagen. 2021 haben wir ein nationales Festival durchgeführt. Dieses nutzten wir dafür, um dieses Werk zu testen, wenn auch nur mit 250 Sängerinnen und Sängern und ohne Publikum im Stadtcasino.
Dieser Test hat uns wichtige Erkenntnisse geliefert. Die Sängerinnen und Sänger kamen unvorbereitet und hatten einen ganzen Tag zur Verfügung, um dies einzustudieren. Danach erhielten wir die Rückmeldung, dass sie dafür zu viel Zeit zur Verfügung hatten. Auch haben wir aufgrund dieser Probe das System der Dirigenten geändert. 2021 hatten alle Dirigenten und Chorleiterinnen und Chorleiter einen Klick [Metronom, Anmerkung d. Red.] im Ohr, was sehr aufwändig war. Für die nun kommende Aufführung im Mai in der St. Jakobshalle haben wir einen Hauptdirigenten, Dominique Tille, sowie drei Sub-Dirigenten und -innen, die jeweils eine der drei Gruppen dirigieren. Nur diese vier Dirigenten und -innen haben jeweils einen Klick. Die einzelnen Chorleiterinnen und Chorleiter nehmen das Dirigat über die Augen und nicht übers Ohr ab.
Die Grösse der Halle war auch für die Komposition wichtig. Der Bereich, in dem sich die Chöre befinden, ist rund 1500 m2 gross. Da die Chorleiterinnen und Chorleiter das Dirigat über die Augen abnehmen, kann es bei einzelnen Chören zu minimalen Verzögerungen von Sekundenbruchteilen kommen. Deshalb durfte das Stück keine harten Rhythmen beinhalten. Balz musste das Stück so komponieren, dass diese Distanz keinen Einfluss auf die Musik hat.

Gemeinsames Singen steht im Vordergrund

Vor 100 Jahren wurde die MECHANLIZENZ, die Vorgängerorganisation der SUISA, gegründet. Damals wurden Filme in den Kinos meist von Klavierspielern/innen oder in grossen Filmpalästen von Orchestern begleitet. Mit der Aufführung der Filmmusik durch die Chöre begebt Ihr Euch quasi zurück in diese Anfangszeit der Filmvorführungen. War das etwas, das in den Entstehungsprozess dieses Werkes einfloss oder dabei mitschwang?

Balz Aliesch: Es war keine Vorgabe für die Komposition. Zudem gibt es in diesem Film eine Tonspur, die ganz spartanisch einzelne Geräusche wiedergibt, die für die Chöre zu schwierig gewesen wären. Wir haben auch zwei Mal einen Klang mit konkreten Tonhöhen drin, damit die Chöre den richtigen Ton haben. Und schliesslich läuft synchron auch noch der Klick für die Dirigenten. Von daher ist es hier anders als bei den Stummfilmen, als es keine Tonspur und Klicks gab. Damals hat man so gut wie möglich versucht, die Musik live zu den Filmen zu spielen. Das Publikum wird allerdings kaum merken, dass es bei «Circuit» diese Tonspur mit den Geräuschen gibt. Das wäre auch nicht die Idee – sie sollen in dieser Klangwolke baden.
Kathrin Renggli: Mich beschäftigen Musik und Film seit rund 20 Jahren, seit ich in Turin an einem internationalen Filmfestival Filme aus dem italienischen Filmarchiv sah. Diese wurden live vertont, allerdings mit sehr vielen Instrumenten, und der Gesang bestand aus einer einzigen Stimme, die mehr Dekoration war. Sie hatten die Filme eigens für das Projekt restauriert, und ich habe sie in sehr lebhafter Erinnerung. Am liebsten würde ich sie nochmals neu vertonen. Deshalb studiere ich seit zwanzig Jahren an dieser Idee rum. Und als wir entschieden hatten, die Aufführung in der St. Jakobshalle zu machen, habe ich mir gesagt: «So, jetzt machen wir es aber wirklich.»
Die Kombination von Film und Musik ist ohnehin spannend. Sie gehören zwar zusammen, aber in einem anderen Verhältnis. Chaplin zum Beispiel wollte primär eine Geschichte erzählen, und die Musik hat diese eher untermalt. So stelle ich es mir vor, wie es vor 100 Jahren war. Später wurde die Musik immer wichtiger und ein beinahe schon ebenbürtiger Part des Films. Und wir gehen bei unserem Projekt noch einen Schritt weiter. Bei uns steht die Musik im Zentrum, und der Film muss nur schon visuell bei einer Präsenz von 1000 Singenden etwas zurückstehen.
Es gibt ganz viele internationale Festivals, zum Beispiel in den baltischen Staaten, die Tausende von Sängerinnen und Sängern zusammenbringen. Meine Vision ist, dass ich zusammen mit Balz ein Konzept und Musik entwickle, die später auch ganz viele andere Festivals nutzen können. Das Ziel ist, die Leute an einem grossen internationalen Festival zusammenzubringen und gemeinsam singen zu lassen. Es geht mir weniger um die Vertonung eines Films an und für sich.

Die SUISA als Partnerin

Balz, Du bist als Komponist und Musiker in verschiedenen Musikgattungen zu Hause. Welchen Stellenwert hat die SUISA für Dich?

Balz Aliesch: Die SUISA ist eine gute Partnerin. Wenn man etwas geschrieben und angemeldet hat, dann ist es bei der SUISA «safe». Ich habe bislang nur gute Erfahrungen gemacht. Ich finde auch das System gut, dass man sich nur einmal anmelden und zahlen muss und dann sein Leben lang Mitglied ist. Vor allem auch, weil man hoffentlich ein Leben lang Musik komponiert. In anderen Ländern ist das zum Teil anders und man muss jedes Jahr einen Beitrag zahlen. Ebenso schätze ich an der SUISA den persönlichen Kontakt mit den Mitarbeitenden. Wenn man Hilfe braucht, hat man reelle Menschen am Telefon, die einem gerne sämtliche Fragen beantworten.

Du, Kathrin, bist als Leiterin des Europäischen Jugendchor Ffestivals eine Kundin der SUISA. Was sind Deine Erfahrungen als Veranstalterin?

Kathrin Renggli: Teuer! (lacht). Es kostet viel und ist ein grosser Posten fürs Budget. Aber es ist gut zu wissen, dass das Geld an den richtigen Ort, nämlich zu den Urheberinnen und Urhebern, geht. Als Veranstalterin beschäftigt und, ja, ärgert es mich richtig, wie wenig die Komponistinnen und Komponisten bekommen im Verhältnis zu den anderen, die an einer solchen Produktion beteiligt sind. Was wir ausgeben müssen für die Technik in der St. Jakobshalle, wo es nichts drin hat, und was im Vergleich dazu der Komponist verdient, steht in einem krassen Missverhältnis. Es ist ganz klar, dass den Technikerinnen und Technikern ein guter Lohn zusteht. Aber wenn man dann sieht, was der Komponist verdient …
Balz Aliesch: Als Komponist rechnet man den Stundenlohn für seine Arbeit lieber nicht so genau aus (lacht).
Kathrin Renggli: Es ist schon krass. Die Technik hätte ja nichts zu verstärken, wenn es keine Komponistinnen und Komponisten gäbe, die für diesen Lohn schreiben würden.

Herzlichen Dank für das spannende Gespräch.

Das 13. Europäische Jugendchor Ffestival Basel (EJCF)

Vom 17. bis 21. Mai 2023 versammeln sich in Basel und der Region rund 2400 singbegeisterte Kinder und Jugendliche sowie über 30 000 Festivalbesucher/innen. Das Festival hat für seine dreizehnte Ausgabe junge Chöre aus zwölf europäischen Ländern sowie einen Gastchor aus den Philippinen eingeladen. Über 500 Chorveranstaltungen und ein dichtes Rahmenprogramm für Singfreudige jeden Alters lassen die Auffahrtstage zum grossen Fest der Begegnung und des Singens werden.
Das Europäische Jugendchor Festival Basel versteht sich als internationale Konzert- und Begegnungsplattform für hochqualifizierte Kinder- und Jugendchöre. Es nimmt in dieser Rolle weltweit einen Spitzenplatz ein. Neben der Veranstaltung von musikalisch hochstehenden Chorkonzerten sieht es seine Aufgabe auch darin, Menschen über alle Grenzen hinweg zusammenzuführen und gemeinsam neue Horizonte entdecken zu lassen. Dies gilt für die Singenden genauso wie für das Publikum und die Chorleitenden aus allen Sparten und Szenen.
Die SUISA ist Partnerin des Europäischen Jugendchor Festivals 2023.
www.ejcf.ch

Der Basler Balz Aliesch ist Komponist, Kinderliedersänger und Kulturschaffender. Er studierte Musik und Medienkunst an der Hochschule für Künste in Bern und Filmmusikkomposition an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er führt ein kleines Tonstudio in Basel und ist seit 2015 Sänger, Schauspieler und Arrangeur des Theater-A-Cappella-Quartetts «Urstimmen». 2022 erschien seine zweite CD «Liebi Griess vo mine Fiess» mit baseldytschen Kinderliedern. Balz Aliesch ist seit 2011 Mitglied der SUISA. www.balzmusik.ch

Kathrin Renggli ist ausgebildete Lehrerin für Primarschule und musikalischen Grundkurs, Chorleiterin und Musikschulleiterin. Sie besitzt einen Master in Kulturmanagement. Seit 2000 leitet sie das Basler Vokalensemble «I Canterini» und von 2011 bis 2016 leitete sie den Kinderchor «Sunny Kids» aus Bottmingen. In früheren Jahren war sie als künstlerische Leiterin und Produktionsleiterin für diverse Auftraggeber/innen der freien Szene sowie Musik- und Primarschulen tätig. Im Jahr 2002 übernahm sie die künstlerische und organisatorische Leitung des Europäischen Jugendchor Festivals Basel. Unter ihrer Führung etablierte sich das Festival und zieht mittlerweile über 30 000 Besucher/innen an. Es gilt europaweit als einzigartiger Treffpunkt für Kinder- und Jugendchöre. Kathrin Renggli ist seit 2015 im Stiftungsrat der FONDATION SUISA.

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