In der fernen Zukunft des Jahres 2123, wenn die SUISA ihren 200. Geburtstag feiern kann, werden Töne aus einer ebenso fernen Vergangenheit erklingen. Zahlreiche Musikerinnen und Musiker aus der Schweiz haben sich Gedanken gemacht, wie solch eine Musik klingen könnte. Herausgekommen ist ein faszinierendes gesamtschweizerisches Gemeinschaftswerk, das nicht erst in 100 Jahren Aufsehen erregen wird. Nach monatelanger Vorarbeit liegen nun 40 Konzepte für eine solche Zukunftsmusik vor. Sie werden am 16. April 2024 im Yehudi Menuhin Forum in Bern vorgestellt.
Dem Zeitgeist entkommen
Der Ethnologe und Kurator Johannes Rühl hat diese einzigartige Idee zum 100-jährigen Bestehen der SUISA (Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik) im letzten Jahr entwickelt. Gemeinsam mit der Musikerin, Kulturvermittlerin und Kulturmanagerin Jennifer Jans und dem Sozialwissenschafter, Hochschuldozent und Kulturvermittler Peter Kraut hat er sie umgesetzt, unterstützt von der SUISA, der FONDATION SUISA und weiteren öffentlichen und privaten Förderern.
Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Schweiz wurden unter dem Motto «Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen» aufgefordert, sich eine Musik auszudenken für ein Publikum, das heute noch gar nicht geboren ist. Eine Musik, die im Jahr 2123 erstmals gespielt wird, in einer uns kaum vorstellbaren Welt. Musik zu schreiben, die den expliziten Anspruch hat, ihrer Zeit voraus zu sein, ist eine grosse Herausforderung.
Brückenschlag in eine unbekannte Zukunft
Mit diesem Projekt soll zwischen den Urhebern der Musik von heute und zukünftigen Interpreten und ihrem Publikum eine Brücke geschlagen werden, obwohl sich beide Seiten nie begegnen werden. Den Komponistinnen und Komponisten stand es frei, ob sie tatsächlich eine Zukunftsmusik erschaffen, die einem zukünftigen Hörverständnis entgegenkommt. Oder ob sie ein musikalisches Signal aus einer dann tiefen Vergangenheit vorziehen. Wie das Publikum in 100 Jahren auf die Musik reagieren wird, kann niemand wissen. Weder kennen wir ihren Geschmack noch ihre Hörgewohnheiten. Wir wissen nicht einmal, ob sie dasselbe Harmonieverständnis haben wird wie wir heute.
Unter Mithilfe von ausgewiesenen Schweizer Kuratorinnen und Kuratoren wurden 40 herausragende Schweizer Musikerinnen und Musiker aller Stilrichtungen ausgewählt, darunter befinden sich zwei Träger des Grand Prix des Schweizer Musikpreises und vierzehn Träger des allgemeinen Schweizer Musikpreises. Sie wurden gebeten, ein Konzept oder eine Idee für eine neue Komposition einzureichen und auf zwei Seiten A4 festzuhalten.
Auffallende Tendenzen
Unterschiedliche Elemente heutigen Musikverständnisses sind in dem Projekt vertreten: Neue Musik, elektronische Musik, Jazz, Pop und Volksmusik. Auch grenzüberschreitende und performative Projekte sind dabei, zudem Installationen. Bei der Durchsicht der Konzepte fällt auf, dass sehr häufig Stimmen vorgegeben sind, oftmals werden Amateure einbezogen. Viele Projekte haben einen expliziten gesellschaftspolitischen Anspruch und einige bewegen sich in utopischen Räumen menschlichen Daseins. Einige wirken wie eine Nachricht aus einer dann längst vergangenen Zeit. Aktuelle Krisen kommen zur Sprache, obwohl niemand weiss, wie die Situation in 100 Jahren sein wird. Das Klima ist etwa ein Thema und gleich mehrfach die schmelzenden Gletscher. Das Vertrauen in instrumental gespielte Musik ist eher gering, wie auch in elektronisch erzeugte Klänge, die vermutlich keine grosse Überlebenschance haben.
Erlaubt waren alle kompositorischen und technischen Mittel zur Live-Reproduktion von Musik. Es lag in der Verantwortung der Komponistinnen und Komponisten, auf welche instrumentalen oder technischen Mittel sie zurückgreifen wollen. Die Kompositionen sollten nach heutiger Massgabe in 100 Jahren reproduzierbar sein. Auch deshalb scheidet elektronische Musik praktisch aus. Nicht gestattet war, das Werk auf Tonträger aufzuzeichnen, um es in 100 Jahren erstmals abzuspielen. Die eingereichten Konzepte, Zeichnungen und Noten sollten in dem vorgegebenen Behälter im Archiv Platz haben und nur aus Material bestehen, das 100 Jahre schadlos übersteht.
An fünf Konzepten wird zurzeit intensiv gearbeitet. Sie wurden unter den 40 ausgewählt, um ausschnittsweise am 16. April in Bern vor Publikum hörbar gemacht zu werden. Aber auch viele andere Arbeiten kommen zur Sprache und werden kurz präsentiert. Zahlreiche beteiligte Musikerinnen und Musiker werden am Anlass anwesend sein.
Für 100 Jahre unter Verschluss
Nach dieser Veranstaltung werden die Original-Unterlagen der Schweizerischen Nationalphonothek in Lugano übergeben und für 100 Jahre in einem versiegelten Behälter eingelagert. Nur säurefreies Papier hat eine Überlebenschance, handschriftliche Aufzeichnungen mit Tinte oder Kugelschreiber sind am sichersten. Ob unsere Handschrift in 100 Jahren überhaupt noch gelesen werden kann, ist allerdings fraglich. Möglicherweise gibt es dann Maschinen, die unsere Kalligraphie entziffern. Ob die Menschen in 100 Jahren noch Noten lesen können, wissen wir nicht.
Zum 200-jährigen Bestehen der SUISA im Jahr 2123 wird der Schatz dann gehoben und, so der Plan, die 40 Stücke aus einer fernen Zeit zum ersten Mal hörbar gemacht. Die Nationalphonothek hat das Versprechen abgegeben, für 100 Jahre sicherzustellen, dass das Material nicht zerstört, entwendet, verändert oder gar in Vergessenheit gerät.
Schon bald erhältlich: eine Archivbox
Auch wenn das ganze Material im Archiv aufbewahrt wird, soll es doch weiterhin zugänglich sein. Zur offiziellen Vorstellung des Projekts wird eine Publikation in limitierter Auflage von 250 Exemplaren erscheinen. Diese besteht aus 40 losen Bögen à 4 Seiten A4, gedruckt auf hochwertigem Papier. In einer eigens dafür hergestellten Archivbox werden alle 40 Konzepte und Kompositionen als Faksimile aufbewahrt. So entsteht ein einzigartiges Dokument des Musikschaffens unserer Zeit.
Eine Zusammenstellung der 40 Konzepte zur Orientierung (PDF, 206 KB)
Diese Texte dienen dazu, sich einen schnellen Überblick über die Inhalte zu
verschaffen und sich über die Musikerinnen und Musiker zu informieren.
Das Projekt in den Medien
10. April 2024 eine einstündige Reportage auf Kulturplatz (SRF1)
12. April 2024 in der Reihe «Passage» von Bettina Mittelstrass (Radio SRF2 Kultur)
Öffentliche Präsentation der Projekte mit einigen Musikausschnitten am:
16. April um 19 Uhr, im Yehudi Menuhin Forum Bern
Moderation: Desirée Meiser (Gare du Nord Basel)
Mit: Nik Bärtsch, Erika Stucky, Joy Frempong & Marcel Blatti (Oy), Hyper Duo, Patrick Frank, Simone Felber & Adrian Würsch, Martina Berther, Fritz Hauser, Ludwig Berger, Matthias Klenota
Diese Veranstaltung wird von der Associazione Olocene Onsernone und der SUISA durchgeführt. Die Teilnahme ist für das Publikum gratis.
Anmeldung unter: www.suisa.ch/de/zukunftsmusik
Zum Begriff «Zukunftsmusik»
Das Projekt Zukunftsmusik berührt vielfältige musikalische, philosophische und zutiefst subjektive Momente. Eigentlich ist uns der Anspruch des immerwährenden Kreierens und Konsumierens von Neuem sehr vertraut. Zugleich ist die Sehnsucht nach Bewährtem und Gewohntem unausweichlich.
Im Jahre 1860 hat Richard Wagner sein berühmtes Pamphlet «Zukunftsmusik» veröffentlicht. Darin drückt er seine Ansicht aus, dass es in der Musik nicht genüge, lediglich zeitgenössisch zu sein. Die Musik müsse sich selbst voraus sein, aus der Zukunft die Formen abrufen, die im Keim bereits vorhanden seien.
Heute würde kaum jemand diesen Anspruch proklamieren. Zeitgenössisch heisst nicht mehr als von Jetzt für das Jetzt. Avantgarde hat den Anspruch, der Zeit voraus zu sein. Neue Musik ist noch keine Zukunftsmusik. Elektronische Musik dokumentiert die heutigen technischen Möglichkeiten. Science Fiction projiziert unsere Phantasien einer Zukunft ins Jetzt. Alle heute geschaffene Musik ist für ein Publikum von heute. Dieses eine Mal ist sie genau dies nicht, denn der Ansprechpartner dieser Musik ist noch nicht einmal geboren.